Auf der Sonnenseite - Roman
einer Gruppe von DDR-Ärzten wiederfand, die ihn und seine seltsamen Begleiter verlegen musterten.
Eine ulkige Situation: Schüchtern wie geliehene Anzüge standen die DDR-Kollegen vor dem Clown aus dem Westen, der sofort das große Wort führte, jedem seiner Kollegen heftig übertriebene Komplimente machte und seiner Grazyna dabei unverhohlen den Hintern tätschelte.
»Na, was trinkt man denn?«, witzelte er am Ende. »Doch wohl nicht diesen billigen polnischen Fusel, der einem ’ne dicke Leber macht?«
Man lachte taktvoll, und Dr. Nabel schillerte und schwadronierte weiter, bis kaum noch einer seinen Mund verzog und Lenz sich dabei erwischte, dass er mit den ostdeutschen Ärzten irgendwie eine gemeinsame Front bildete. Das fand er, seine Vorgeschichte bedenkend, so amüsant, dass er doch wieder lachen musste. Was Dr. Nabel seinen Witzen zugutehielt.
Die Ärzte aus OstBerlin, Dresden, Leipzig und Rostock jedoch schienen zu spüren, dass Lenz sich für diesen Mit-Bundesbürger eher schämte als begeisterte. Sie lächelten ihm verständnisvoll zu, und als Dr. Nabel aus ihrem Kreis gerufen wurde, führte man ein ganz normales Gespräch miteinander, spottete über den Abwesenden und prostete sich gegenseitig zu. Niemand kannte Lenz’ Geschichte und weshalb hätte er sie ihnen erzählen sollen?
Tags darauf kam ein junger, blonder OstBerliner Oberarzt, der im Krankenhaus Friedrichshain angestellt war, an den Stand von Willgruber & Dietz , um sich weiter mit Lenz über den »Nabel der Welt« lustig zu machen. Mitten im Gelächter erspähte er eine der voluminösen blauen Giftfibeln, ein Standardwerk über die verschiedenen Gifte und Gegengifte, die Lenz nach guten Geschäftsabschlüssen als Sonderbonus überreichen durfte. Verzückt blätterte er darin. »Wie und wo kann man so was Nützliches denn erwerben?«
Lenz informierte ihn entsprechend und der blonde junge Mann blickte enttäuscht. Was konnte ein Arzt aus dem Osten bei Willgruber & Dietz schon einkaufen? Etwas »beantragen« konnte er bei seiner Krankenhausverwaltung und auf ein Wunder hoffen. Selbst im Erfolgsfalle jedoch würde nicht er dieses Präsent erhalten, sondern irgendeine Fachbibliothek würde es sich einverleiben.
»Und was kostet die Fibel, wenn man sie kaufen will?«
»Zweihundert Mark.«
»Westmark!« Das war keine Frage. Eine bittere Feststellung. Jene Giftfibel war für einen OstBerliner Arzt ohne Westverwandtschaft beinahe so unerschwinglich wie die Kronjuwelen der englischen Königin.
Lenz sah den jungen Doktor an und dachte daran, wie oft er in früheren Zeiten Ware an das Krankenhaus Friedrichshain geliefert und längere Zeit auch gar nicht weit davon entfernt gewohnt hatte. Ja, und da kam es über ihn: Er griff sich eine Plastiktüte, schob die dicke Giftfibel hinein und drückte die Tüte dem verblüfft Aufschauenden in die Hand. »Bitte schön! Kleine Aufmerksamkeit des Hauses. Aber um Gottes willen nicht darüber reden! Sonst laufen mir Ihre Kollegen die Bude ein.«
Nicht viel, und der junge Arzt hätte Lenz umarmt und abgeküsst. »Danke schön! Also, das ist … da fehlen mir die Worte!«
»Haben Se Lenin zu verdanken.« Lenz grinste. »Sie wissen ja, es ist erlaubt, den absterbenden, faulenden Kapitalismus in jeder Weise zu schädigen.«
Der Friedrichshainer stutzte kurz – ein Westmensch, der sich so gut mit Lenin auskannte? –, aber dann schob er alle Fragen, die sich ihm in diesem Augenblick aufdrängen mochten, einfach beiseite. »Also, das vergesse ich Ihnen nie! Besten Dank noch mal!« Und weg war er!
Eine Tat, die Folgen hatte! Der junge, von Lenz’ Großzügigkeit begeisterte Oberarzt redete mit seinen DDR-Kollegen nicht nur über dieses kostbare, unverdiente Werbegeschenk, er zeigte die Giftfibel auch überall herum. Und so wurden sie denn einer nach dem anderen am Stand von Willgruber & Dietz vorstellig, um »vom Kapitalismus zu lernen«, wie sie hinter vorgehaltener Hand über ihre »Arme-Männer-Situation« lästerten. Und Lenz, gutmütig, wie er war, schädigte den faulenden, absterbenden Kapitalismus ein ums andere Mal, und das, je öfter es geschah, mit leichterem Herzen. Was er hier tat, kam am Ende ja den Patienten dieser Ärzte zugute. Es gab schlimmere Verbrechen.
Fortan war er so gut bei den ostdeutschen Ärzten angesehen, dass sie keinerlei Hemmungen mehr hatten, auch mal ein privates Wort mit ihm zu wechseln. Sie schilderten ihm ihre beruflichen Sorgen, und er wusste wieder, in welcher so ganz
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