Auf der Sonnenseite - Roman
er in viele Rollen, lachte und empörte sich mit seinen Helden und heulte auch mal. Er war der indische Straßenhändler an Bombays Marine Drive und der reiche Industrielle in Madras, war der Berliner Hinterhofjunge aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und der jugendliche Drogenabhängige von heute, der mit der Gegenwart und seinem sozialen Umfeld nicht klarkam. Schreiben, das kapierte er bald, hieß vor allen Dingen lernen. Er hatte zuvor so vieles ja überhaupt nicht gewusst, erst jetzt, da er darüber schrieb, begriff er Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten. Wenn das Wort »Beruf« von Berufung kam, so hatte er seinen wahren Beruf gefunden.
Und siehe da, trotz seiner unerquicklichen Themen hatte er von Jahr zu Jahr mehr Erfolg; es gab eben mehr Menschen, die sich und ihre Kinder über die wirkliche Welt informieren wollten, als so mancher Verleger sich das träumen ließ.
Bei Goethe heißt es: »Es gibt dreierlei Leser, die, die ohne Urteil genießen, die, die ohne zu genießen urteilen, und die, die genießend urteilen oder urteilend genießen.« Lenz hatte sich vorgenommen, für die allerschwierigste Gruppe von Lesern zu schreiben – für Kinder und Jugendliche. Die »genoss« nur, was nicht schon nach zehn Seiten in die Ecke flog; eine Art innerer Verpflichtung, das Buch bis zum Ende durchzuhalten, weil vorne drauf ein bekannter Name stand oder ein Kritikerpapst jede Menge Lobsprüche abgesondert hatte, kannten sie nicht. Gerade auf diesem von vielen Pädagogen und Literaten immer wieder als äußerst wichtig apostrophierten, heimlich aber als zweitrangig belächelten Nebenozean jedoch hatte er viel Triviales und schludrig Geschriebenes gefunden. Die berühmten Ausnahmen bestätigten nur die Regel. Jetzt, Mitte der Siebzigerjahre, war eine neue Generation von Kinder- und Jugendbuchautoren angetreten; junge Leute, die versuchten, mit frischem Wind auf große Fahrt zu gehen. Es entstand viel Gutes und noch mehr Gutgemeintes; jahrzehntelang war das Pendel viel zu weit in Richtung heile Welt ausgeschlagen, nun schlug es genauso weit in die andere Richtung. Doch wenigstens bewegte es sich.
Erste Lesungen folgten, und da Lenz das Gespräch mit dem Publikum liebte, wurde er bald immer öfter eingeladen.
Eine Frage, die ihm von Erwachsenen häufig gestellt wurde: »Und warum schreiben Sie ausgerechnet für junge Leser? Sie befassen sich mit so wichtigen Themen, das ist doch auch für Erwachsene interessant.«
Ja, warum?
Gern wurde geglaubt, für Kinder und Jugendliche zu schreiben, sei einfacher. Wer je versucht hat, sich mit ernsthafter Literatur – die Betonung liegt auf Literatur – gerade an junge Leute zu wenden, weiß, dass das nicht stimmt.
Warum dann, Manfred Lenz?
Weil deine eigene Jugend nicht so verlogen harmonisch und gradlinig verlaufen ist wie in den Heile-Welt-Jugendbüchern?
Weil du deine jungen Leser auf die Wirklichkeit vorbereiten willst, damit sie sich eines Tages darin zurechtfinden?
Weil du ihnen zeigen willst, was im Leben schön und an der Welt veränderungswürdig ist?
All das spielte eine Rolle, im Vordergrund aber stand Sympathie. Es machte Lenz Spaß, sich an neugierige junge Leute zu wenden; er hielt es für wichtig, dass gerade sie nicht nur Lesefutter bekamen.
Seine ersten beiden Bücher hatte er für Silke und Micha geschrieben, weil sie nicht bei ihm waren und er das Gefühl hatte, ihnen auf diese Weise näher zu sein. Doch hatte er von Anfang an nicht nur an seine Kinder und auch nicht allein an Kinder und Jugendliche gedacht. Eine Geschichte, die Erwachsene uninteressant fanden, weshalb sollte die junge Leser interessieren? Nein, von der ersten Zeile an hatte er für »Leser« geschrieben, mochten sie jung oder schon etwas älter sein. Viele dem Jugendalter längst Entwachsene lasen seine Romane und Erzählungen. Und nicht selten schrieben sie ihm nach der Lektüre, so manches von dem, mit dem er sich beschäftigte, hätten sie erst jetzt richtig verstanden. – Was für ein Lob!
Dennoch: Vor die Wahl gestellt, entweder für junge oder ältere Leser und Leserinnen zu schreiben, hätte er sich für erstere entschieden. Viele ältere Menschen klammerten sich an ihr seit Jahrzehnten feststehendes Weltbild und wollten nicht daran kratzen lassen. Es war ihnen lästig, einmal gewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen infrage gestellt zu bekommen. Auch hatten so manche, die in ihrer Jugend die Welt verändern wollten, sich ihren Kopf an den Wänden der Gesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher