Auf der Sonnenseite - Roman
hingegen wurden Heiligenscheine verteilt. Alles überzuckert mit jeder Menge Klatsch, Tratsch, Blödsinn und nackten Busen.
»Wer liest denn so was?«, fragte Hannah entgeistert, als sie zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder eine Bild - Zeitung in den Händen hielt. »Das ist ja nichts als ein mit fetten Buchstaben und dreisten Parolen angerührter Wörterquark.«
Sie standen auf der Frankfurter Zeil, mitten im Wirtschaftswunderland der Kaufhäuser. Die heiße Augustsonne brannte auf sie nieder, die Druckerschwärze des Blattes mit den großen, fett gesetzten Lettern färbte ihnen die Hände schwarz, und der neugierige Lenz, der kaum glauben konnte, wie wenig wirkliche Information ihm auf diesen groß und knallig ins Auge springenden Seiten angeboten wurde, hatte das Gefühl, von den Machern dieses Blattes verarscht zu werden. – Was für ein Dummdeutsch! Wie diese Journalisten ihre Leser einschätzten! Die mussten sich doch über jeden, der diese Zeitung täglich las und den Quatsch für bare Münze nahm, heimlich krummlachen.
»Aber leider ein mit viel Blut und Hass versetzter Wörterquark, und giftig genug, um jede Menge Leser ins geistige Koma zu versetzen«, antwortete er dann nur. Und danach hatte er einen ganzen heißen Sommernachmittag lang Stoff zum Nachdenken.
Nun wusste er, was der Staat, aus dem er kam, falsch gemacht hatte: Die furztrockenen, parteifrommen Blätter der SED, mit etwas Po und Busen und jeder Menge Babydeutsch hätten sie dem Volk ihre Ideologie verkaufen müssen! Nicht von der Sowjetunion, von Bild hätten sie lernen müssen, die Propagandisten des Ostens, dann wären sie vielleicht gelesen worden. Das Blatt in seiner Hand war der Beweis: Je niedriger das Niveau, desto größer der Erfolg.
Erinnerungen stiegen in ihm hoch: 1967, der Besuch des Schahs von Persien in WestBerlin. Die Studenten protestierten gegen den »Massenmörder in Prunk und Protz«, aus dem Iran eingeflogene »lattenschwingende Jubelperser« und deutsche Polizisten prügelten auf sie ein, bis ein übereifriger Verteidiger der Ordnung in die Menge schoss und einen der Studenten tödlich traf. Eine Tat, die Hannah und ihn damals sehr erschreckte. Sie waren der Meinung, dass man sehr wohl gegen das Schah-Regime demonstrieren durfte und der Einsatz der Schusswaffe in der gegebenen Situation ein Verbrechen war und keine »Überreaktion«, wie es die Polizeiführung darstellte. Und dann die Namen von Opfer und Täter! Sie klangen, als hätte ein Romanautor sie erfunden. Der junge, harmlose, gern Gedichte lesende und nicht im Geringsten gewalttätige Student hieß Ohnesorg , sein Mörder Kurras – wie Barras .
Springers Bild hatte jene Ereignisse erst provoziert, dann verzerrt dargestellt und sich am Ende dazu verstiegen, die Protestler als »neue SS« zu brandmarken. Böse Folge dieser Hetzkampagne: die Schüsse auf den Studentenführer Rudi Dutschke, an deren Folgen der von Bild gehasste und verfolgte »Staatsfeind Nr. 1« Jahre später starb.
Fernsehbilder, die Lenz ebenfalls nie vergessen würde. An jenem Apriltag 1968, an dem auf Dutschke geschossen wurde, einem sonnigen Gründonnerstag, lag er mit einem verstauchten Knöchel auf der Couch und ließ den Kasten laufen. So bekam er alles mit, das feige Attentat, durchgeführt von einem dreiundzwanzigjährigen Hilfsarbeiter und frühen Neo-Nazi, der dreimal auf Dutschke feuerte, und die darauf folgenden gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Dutschke-Sympathisanten. Wasserwerfer wurden eingesetzt, Polizeiknüppel geschwungen und Plakate mit Losungen und Bildern von Marx und Engels, Lenin und Rosa Luxemburg, Mao und Ho Chi Minh geschwenkt. Steine flogen auf die »Bullen« und in die Schaufenster, und immer wieder ertönte es laut: »Ho – Ho – Ho Chi Minh! Ho – Ho – Ho Chi Minh!«, der beliebte Kampfruf der Studenten, zugleich eine Eloge auf »Onkel Ho«.
Mit seltsam widerstreitenden Gefühlen hatte er diesen Bildschirm-Krieg verfolgt. Bild hatte die Studenten als neue SS bezeichnet, für die Studenten waren die Polizisten nichts anderes als eine neue SA; beide Seiten liebten Verteufelungen. Rudi Dutschke empfand er als sehr zwiespältige Persönlichkeit. Mal sagte er kluge Sachen, oft verbreitete er verworrene Theorien, hin und wieder griff er in die Rhetorik-Kiste der Stalinisten. Und leider schloss er Gewaltanwendung nicht aus. Auf alle Fälle aber gebärdete Dutschke sich für seinen Geschmack viel zu fanatisch; einer, der seine
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