Auf der Sonnenseite - Roman
schwärmten vom westlichen Teil seiner Heimatstadt. Verwundert hörte er ihnen zu. Wenn sich die WestBerliner nur halb so viel für ihre türkischen Mitbürger begeistert hätten, welch rosarote Wolke der Völkerverständigung schwebte dann über dieser Halbstadt!
Kummer machten ihm die Japaner: Während zweier Reisen war er mit dem Taxi bei strahlendem Sonnenschein zur Akropolis hochgefahren – jedes Mal war sie von japanischen Touristen verstopft. So blieb es stets beim Kurzbesuch.
Das dritte Mal entschied er sich, bei grauem Nieselregen die Akropolis zu besichtigen – und an jenem Tag gehörte sie ihm allein.
Er spazierte zwischen Parthenon und Propyläen herum, blickte lange zum gegenüberliegenden Lykabettos-Berg mit der kleinen weißen Georgskapelle hinüber oder zum an diesem Tag leider nicht blauen, sondern graugelben Meer hinunter und spürte vergangenen Zeiten nach. Als dann zwischen den Säulen der Propyläen auch noch eine einsame schwarze Katze auftauchte, die ihn eindringlich ansah, rieselte es ihm den Rücken herunter.
Die Probleme der Gegenwart, von der Höhe der Weltgeschichte aus betrachtet, wie klein wurden sie, wie unbedeutend. Nichts als ein einziger, schmaler Ziegelstein in einer unendlich hohen und unendlich breiten Mauer, von der niemand wusste, wer sie errichtet hatte und wie lange sie noch stehen würde.
6. Schwarz auf weiß
W as du schwarz auf weiß besitzt, kannst du getrost nach Hause tragen. Auch Lenz war lange auf diesen dummen Spruch hereingefallen. Was hatte er in seiner Jugend nicht alles gelesen – und geglaubt. Weil es Romane, Erzählungen oder Gedichte von Autoren waren, die mitzureißen verstanden. Jetzt wusste er, wer ihn belogen hatte und wer nicht, und nahm den Lügnern ihre Lügen übel. Egal, ob wissentlich, aus purer Dummheit oder nur aus Verzweiflung, weil da einer endlich mal veröffentlicht werden wollte, Lüge blieb Lüge und der äußere Druck war keine Entschuldigung.
War es so einfach? Sicher nicht. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er darunter gelitten hatte, bei jeder zweiten, dritten Zeile, die er schrieb, zu wissen: Das darfst du nie irgendwo einsenden! Das hauen sie dir um die Ohren! Dafür sperren sie dich ein.
Er war keiner derer gewesen, die alles negiert hatten, nur weil es von der Partei kam, die immer recht hatte. Ihre Ablehnung der Militärjunta in Griechenland oder des Vietnamkriegs der USA teilte er. Obwohl er natürlich wusste, dass die sozialistische Staatengemeinschaft nur ihre eigenen Interessen wahrte und oft nicht anders handelte als die westlichen Militaristen. Neunzig Prozent der Politik des Politbüros aber lehnte er ab.
Er hätte sich verbiegen müssen, bis es im Rückgrat krachte, um in den DDR-Klub der Schreiber aufgenommen zu werden. Ehrlich schreiben und das Geschriebene nicht geheim halten, sondern publizieren, wie soll das möglich sein für einen Andersdenkenden in einem Staat, in dem eine Partei über Künstler und Kunstwerke bestimmt und nicht die Menschen, für die die Werke gedacht sind? Und wozu denn überhaupt schreiben, wenn nicht ehrlich? Nur um »Erfolg« zu haben? Aus purer Eitelkeit? Das hätten ihm seine Götter unter den Autoren nie verziehen.
Jetzt lebte er in einer Gesellschaft, in der es keine politische Zensur gab. Allein der Markt hielt den Daumen hoch oder zeigte nach unten. Doch musste er sich um den kümmern? Es hatten ja auch andere ihre Nischen gefunden, Autoren aus Ost und West, die ihre Befriedigung nicht allein in hohen Verkaufszahlen fanden.
Er hatte seine Ideale nicht an eine Ideologie verraten, er wollte sie auch nicht dem Markt opfern. Ein Schriftsteller, so seine Überzeugung, musste eine Meinung haben und die auch vertreten, egal ob ihm das schadete oder nicht und auch auf das Risiko hin, dass er irrte. Er musste schildern, was ihn bewegte, das Schöne und das Entsetzliche, das Bequeme und das Unbequeme, das zu Bejahende und das zu Verneinende. Alles ohne Abstriche. Wer allein für Geld schrieb oder um seine Eitelkeit zu befriedigen, was unterschied den von den Hofschreibern der Diktaturen? Bei Stanislaw Jerzy Lec hatte er gelesen, der tiefste Fall der Kunst sei der Kniefall; es war egal, ob man vor einer Partei oder dem Markt in die Knie ging.
Arrogante Gedanken? Na, wenn schon! Allein der Widerstand gegen alles, was dem eigenen Denken widerspricht, formt den Menschen. Ewiges Mitlaufen macht nur windschnittig.
Lenz war guten Mutes, obwohl ihm der Literaturbetrieb in den westlichen
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