Auf der Sonnenseite - Roman
wundgestoßen und wollten zukünftig lieber schmerzfrei leben. Junge Leser hatten noch frische Köpfe, konnten weiterstoßen. Und sollten nicht auf irgendwelche »Führer« oder »Gurus« hereinfallen.
Lenz bekam jedes Mal einen Schreck, wenn ihm in den Fußgängerzonen der Städte, in denen er unterwegs war, junge, blasse, glatzköpfige Krishna-Jünger entgegenkamen. In Turnschuhen und ockerfarbenen Gewändern wollten sie ihm für zehn Mark eines ihrer knallbunten Bücher »schenken«. Sie wussten nichts von Indien und kaum etwas über Krishna, doch folgten sie irgendwelchen Leuten in diese scheinreligiös bestimmte Lebensform. Und würden auch anderen Führern folgen, wenn sie nirgendwo sonst einen Halt fanden. Sie suchten Ideale. In der westlichen Freiheit aber gab es keinen Staat, der ihnen konforme blaue Hemden anzog und ihnen suggerierte, auf der Seite des Fortschritts zu stehen. Geh und finde selbst deinen Weg, hieß es hier, und: Jeder ist seines Glückes Schmied. Anforderungen, die einsam machten und von religiösen Spinnern oder politischen Wirrköpfen gern ausgenutzt wurden, um den Suchenden ihre Heilslehren in die Köpfe zu pflanzen. Wer aber sollte den Verführern etwas entgegensetzen, wenn nicht jene, denen diese Jugend wichtig war?
Nicht jedem seiner Zuhörer gefiel Lenz’ Kritik am westlichen Lebensstil. »Geh doch nach drüben, wenn’s dir hier nicht gefällt«, wie oft bekam er sie zu hören, diese stereotype Aufforderung an alle, denen die bundesrepublikanische Gesellschaft verbesserungswürdig erschien. Seine lakonische Antwort »Von dort komme ich ja gerade« verblüffte die Zuhörer.
Er hatte nicht verheimlicht, dass er aus der DDR kam, war mit seiner Geschichte aber auch nicht hausieren gegangen. Er wollte nicht in die Opferrolle gedrängt werden und auch keine Sonderbehandlung, nur weil er von der anderen Seite kam. Es gab so viele »DDR-Dissidenten«, die es auf diese Weise in die Schlagzeilen gebracht hatten und herumgereicht wurden, bis ihr Neuigkeitswert gegen null tendierte; er fand es nicht erstrebenswert, mit ihnen in einen Topf geworfen zu werden.
Erfuhr sein Publikum, dass er aus der DDR kam, wurde heftig diskutiert. Manch ein Gleichaltriger hatte als Kind zwei Wochen Ferien in Thüringen oder an der Ostsee gemacht und beteuerte laut, so schwarz, wie die dort Weggegangenen die DDR malten, sähe es dort gar nicht aus. Andere, die sie noch weniger kannten, malten sie dafür umso schwärzer, glaubten sie doch, dass in der »Ostzone« jeder, der mal laut »Scheiße!« gesagt hatte, sofort verhaftet würde.
Lenz musste in beiden Fällen widersprechen. Das belustigte ihn, verriet es doch mal wieder, dass es die Farben Schwarz und Weiß tatsächlich gar nicht gab.
Junge Leute, die sich besonders kritisch gaben, warfen ihm hin und wieder vor, über die Armut in der Dritten Welt und die Entsetzlichkeiten der deutschen Geschichte doch nur zu schreiben, um damit Geld zu verdienen. Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung in der westdeutschen Verlagslandschaft glaubten sie, dass man mit der Schilderung fremder Armut und eigener Verbrechen sehr wohl gut verdienen konnte.
Darauf zu antworten, fiel Lenz schwer. Er wollte sich nicht damit verteidigen, dass er Patenkinder in Indien und Indonesien hatte, weil er einen Teil seines Honorars zurückgeben wollte an diejenigen, über die er geschrieben hatte. Wer so redete, würde ihm nicht glauben, dass er, um Geschäfte zu machen, besser zu anderen Themen gegriffen hätte. Sie machten sich ihr Bild von der Welt und das hatte gefälligst zu stimmen. Sie hielten sich für fortschrittlich und sozial gerecht und beharrten genauso strikt auf ihren Vorurteilen wie jene, die sie für alles verantwortlich machten. Betonwände können ganz verschiedenfarbig angestrichen sein.
7. Deutsche Geschichte
L enz hätte sich gern einen Sozialisten genannt. Freiheit und Gerechtigkeit, waren das nicht Ideale, die jeder sich auf seine Fahnen schreiben sollte? »Sozialismus«, war das nicht ein Wort, das die Sehnsucht der Menschen nach einem menschenwürdigen Leben für alle ausdrückte? Ein weißer Schimmel, jener »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, wie er 1968 in der Tschechoslowakei aufgebaut werden sollte, bevor er von den Truppen des Warschauer Paktes niedergeschlagen wurde. Eben weil die Regierenden, die die Soldaten schickten, sich nur Sozialisten nannten, aber keine waren. Lenz war froh, dieser Art von Weltverbesserern entkommen zu sein.
Doch nun gab
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