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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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schrillte.
    Es war ein sehr lautes »Schrillen«, obwohl es in Wahrheit zuerst nur gezischt und dann übermächtig laut geknallt hatte. Dennoch bekam man es im weitaus größten Teil der Welt anfangs gar nicht mit, denn der Wecker stand nicht im westlichen Europa, sondern in der ziemlich weit im Osten gelegenen Ukraine, und die war zu jener Zeit noch Teil der Sowjetunion, einem Land, in dem man es mit der Öffentlichkeitsarbeit nicht so genau nahm.
    Hannah, Silke, Micha und Manfred Lenz und weitere Milliarden Erdbewohner lagen zu jener Zeit in ihren Betten und schliefen, gingen ihrer Arbeit nach oder erledigten Alltagsgeschäfte. Sie wussten von keinem Weckerschrillen und hätten, wäre es nach den sowjetischen Behörden gegangen, nie etwas von jenem »Störfall« erfahren. Der real existierende Sozialismus liebte nun mal keine Störfälle und deshalb gab es sie nicht. Doch handelte es sich in diesem Fall um eine freigesetzte radioaktive Wolke, die sich langsam über ganz Europa ausbreitete. Das war auf die Dauer nicht zu verheimlichen, und so musste man sich am Ende doch bequemen, die restliche Welt wachzurütteln.
    Ja, so gestand man ein, aus dem Kernkraftwerk Tschernobyl sei Dampf entwichen und nur wenig später habe eine gewaltige Explosion die riesige Reaktorhalle zerstört und ein über tausend Meter hoher, gleißender Feuerkegel sei in den nachtschwarzen Himmel geschossen. Mit Auswirkungen auf Europa und dem restlichen Teil der Welt sei zu rechnen. Tut uns wirklich leid!
    Und da schrillten sie nun doch, die Alarmglocken. Jedenfalls bei den Politikern und sonstigen Koryphäen, die sich noch einen Funken Verantwortungsbewusstsein bewahrt hatten. Vor bestimmten Gemüse- und Obstsorten und dem Verzehr von Waldpilzen wurde gewarnt und mit mehr als einer Million Krebskranken als Folge dieses Super-GAUs gerechnet. Der bundesdeutsche Innenminister allerdings, absoluter Experte für alles, wiegelte ab: »Keine akute Gefahr!«
    Beschwörungsformeln wie auf der Titanic : »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« So mancher aber wollte sich auf kein Risiko einlassen, Bewegung kam ins Land, der Ausstieg aus der Atomindustrie wurde verlangt. Die Atomlobby allerdings wusste es besser. Aber nein, hieß es, westliche Atomkraftwerke seien absolut sicher, eine Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl könne nur den schlampigen Russen passieren. Hinweise auf westliche Störfälle, die es in weniger katastrophalem Ausmaß durchaus gegeben hatte, wurden heruntergespielt. Man habe alles im Griff.
    Und in der DDR? Nichts passiert! Die Wolke hatte vor den Grenzen der realsozialistischen Länder haltgemacht und sogar zwischen West- und OstBerlin unterschieden. Vielleicht, weil sie aus dem Osten kam und nicht dahin zurückwollte?
    Die Waldpilze – alles bestens! Obst und Gemüse – auch jenes, das im Westen fortan unverkäuflich war – allererste Qualität! Sei dankbar, Bevölkerung, jetzt gibt’s das Zeug, das ansonsten Devisen ins Land zu bringen hat, endlich auch mal in unseren Läden zu kaufen. Jedenfalls solange die überempfindlichen Westler darauf verzichten.
    Doch das Leichentuch des Schweigens erstickte nicht das Denken. Auch der Osten geriet in Bewegung. Umweltgruppen entstanden, Punks und Skins muckten auf, junge Christen verlangten, Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden. Und die Ausreiseanträge häuften sich. Die Stasi, so vielköpfig sie auch aufgestellt war, kam mit dem Observieren dieser Art von Störfällen kaum noch nach.
    Ja, und dann zu all diesem Ärger auch noch jener Gorbatschow in Moskau. Der schlimmste aller Störfälle. Da forderte der neue sowjetische Staats- und Parteichef doch mit einem Mal Glasnost und Perestroika – Offenheit und Umbau –, also mehr Durchsichtigkeit in der Politik und die radikale Umbildung oder gar Neugestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems. Mehr Demokratie war diesem Polit-Lehrling plötzlich so notwendig wie die Luft zum Atmen.
    Ein Tritt vors Schienbein der Alt-Männer-Riege im Politbüro der SED. Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen, so hatten Honecker & Co. vier Jahrzehnte lang gepredigt. Nun durfte diese »endgültige wissenschaftliche Erkenntnis« nicht mehr gelten, wollte man nicht politischen Selbstmord begehen. Ängstlich verbot man eine solch »irrige und schädliche« Thesen verbreitende sowjetische Zeitschrift und nahm auch den einen oder anderen zu kritischen sowjetischen Film aus den Kinos. Was dieser Gorbatschow wollte,

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