Auf der Sonnenseite - Roman
im bereits wiedervereinigten Deutschland, erschütterte ein Mord die nun größer gewordene Bundesrepublik. Diesmal traf es Detlef Karsten Rohwedder, den Chef der staatlichen Treuhand-Gesellschaft, die die Abwicklung des Vermögens des untergegangenen DDR-Staates vorzunehmen hatte; ein letzter, ohnmächtiger Versuch, eine Entwicklung aufzuhalten, die nicht im Interesse der RAF lag.
Erst 1992, nach insgesamt vierunddreißig Morden, diversen Banküberfällen und Sprengstoffattentaten erklärte die RAF, ihren Krieg gegen den Staat vorerst einstellen zu wollen. Weitere sechs Jahre später gab sie ihre Auflösung bekannt. Die Zeiten hatten sich geändert, auch hatte man wohl endlich erkannt, dass dieser »Krieg« nicht zu gewinnen war.
Für Lenz eine viel zu späte Einsicht. Und war damit etwa alles vorbei, vergeben und vergessen? Dieser brutale, menschenverachtende Feldzug einiger weniger gegen ein ganzes Land Schnee von gestern?
Acht Jahre zuvor, Mitte 1990, war es in der noch existierenden, inzwischen jedoch von einer demokratisch legitimierten Regierung geführten DDR zu Festnahmen gekommen. Mehrere dort untergetauchte RAF-Mitglieder waren enttarnt worden. Die Deutsche Demokratische Republik der Honecker & Co., nach eigener Aussage einer der friedliebendsten Staaten der Welt, hatte ihnen Zuflucht gewährt und sie mit neuen Identitäten ausgestattet.
Für Hannah und Manfred Lenz ein spätes Aha-Erlebnis. So waren diese Mordschützen und Bombenwerfer also einen ähnlichen Weg gegangen wie zuvor Silke, Micha und sie? Von Deutschland nach Deutschland. Nur eben in umgekehrter Richtung und mit dem großen Unterschied, dass die vier Lenzens nichts weiter getan hatten, als ein ihnen zustehendes Menschenrecht in Anspruch zu nehmen. Wofür sie mit Trennung, Gefängnis und Kinderheim bestraft und so zu unschuldigen Opfern ihres Staates geworden waren, während derselbe Staat wirklichen Verbrechern bereitwillig Unterschlupf gewährt und sie vor jeder Strafverfolgung geschützt hatte.
Was waren diese Festnahmen anderes als eine doppelte Enttarnung? Die Stasi und die RAF hatten den gleichen Feind bekämpft, wenn auch mit ihren jeweils ganz eigenen kriminellen Methoden, und in der Not hatten die Nachfahren von Lenin und Stalin zusammengehalten. Solidarität unter Genossen.
Zweiter Teil
Geteilte Freude
1. Störfälle
L enz hatte es Hannah zu verdanken, dass er seinen Job bei Willgruber & Dietz Anfang der Achtzigerjahre aufgeben konnte. Um nur noch zu schreiben! Der Exportkaufmann, das war zuletzt nur noch Broterwerb gewesen. Der Mann, der da in Anzug und Krawatte und mit dem schwarzen Aktenköfferchen in der Hand auf dem Flughafen stand, um in alle Welt hinauszufliegen, um Geschäfte zu tätigen für die Firma, die ihn bezahlte – nichts als eine Rolle, die er nur noch ungern gespielt hatte.
War er mit größeren Vertragsabschlüssen nach Hause gekommen, hatte er keinerlei Genugtuung empfunden; hatte es nicht geklappt, zuckte er nur die Achseln: Die Konkurrenz wollte auch leben! Auch hatte er sich zuletzt immer rascher mit jenen unschönen Geschäften abgefunden, die ihn anfangs so verstört hatten. Der Verdacht, dass er diese aus seiner Sicht kriminellen Aktivitäten irgendwann als gottgegeben betrachten würde, lag nahe.
Hannah wollte, dass er mehr Zeit hatte, sein Talent auszuprobieren. Sie arbeitete nun wieder ganztags, fuhr jeden Morgen mit der S-Bahn nach Frankfurt, um in einer großen Bank den Hauptanteil von Brot und Miete zu verdienen. Und hatte Glück, fand befriedigendere Wirkungsbereiche als zuvor. So wurde Lenz »Hausmann«, ein Begriff, der gerade erst in Mode gekommen war. Er warf alle seine Krawatten weg, putzte, ging einkaufen, kochte und schrieb.
Und schaffte sich einen Hund an! Einen Mittelschnauzer, schwarz wie Steinkohle und bewegungslustig wie ein Springteufel, der ihn immer mal wieder von seinem Schreibtisch weg an die frische Luft zwang. Seine Name: Stalin. Was aber nicht auf schlechten Charakter hindeuten sollte. Der dichte Schnauzbart hatte Lenz an den ehemaligen »Vater aller Werktätigen« denken lassen; auch hatte der Züchter gesagt, es sei gut, wenn im Namen ein i vorkomme, dann hörten Hunde besser.
Nun: Auch im Namen Hitler kam ein i vor, doch wer wäre auf die Idee verfallen, seinen Hund Hitler zu nennen? Rief Lenz nach Stalin, lachten die Leute; das wäre ihm im Falle jenes anderen Namens nicht passiert. Doch hatte der echte Stalin sich etwa als ein so viel menschenfreundlicherer,
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