Auf der Sonnenseite - Roman
gefälligerer Diktator erwiesen als jener Führer der Deutschen?
Es war ganz einfach so: Für den georgischen Schustersohn und Priesterschüler hatten sich andere zu schämen; für den verhinderten Kunstmaler aus dem Österreichischen, der zum Großdeutschen geworden war, war man selbst verantwortlich. Und wer lachte schon gern über eigene Fehler, Versäumnisse und Verbrechen?
Stalin jedoch hörte trotz des i im Namen nur selten. Lenz war ein schlechter Erzieher und Silke und Micha machten es nicht besser. Jeder hatte seine eigene Methode, mit dem kleinen Diktator umzugehen. Wonach hätte der neue Familienzuwachs sich richten sollen? Aber was für ein Gefühl, mit Stalin Gassi zu gehen und zu wissen: Wenn du heimkehrst, sitzt du wieder an deinem Schreib tisch!
War Lenz am Abend müde und konnte nicht mehr schreiben, freute er sich schon auf den neuen Tag, an dem er mit frischen Kräften wieder in den Roman oder die Erzählung, an der er gerade arbeitete, eintauchen konnte. Das Wort »Selbstverwirklichung«, ebenfalls gerade erst in Mode gekommen, er erfüllte es mit Leben.
Für die Leute im Ort war er gewöhnungsbedürftig, dieser ja noch junge Mann, den sie öfter im Supermarkt, beim Gassigehen mit Stalin oder beim Müllentleeren antrafen. Mancher Geschlechtsgenosse lächelte wohl auch über ihn: Na ja, ein richtiger Kerl ist so ein Hausmann ja wohl nicht! Bald aber sprach es sich herum, dass er »in Wahrheit« schrieb, in der örtlichen Buchhandlung hatte man Bücher von ihm gefunden. Von da an wurde er akzeptiert und vielleicht sogar ein bisschen bestaunt. Stand er auf dem Markt in der Schlange der Hausfrauen, boten sie ihm an, vorzurücken; er habe doch sicher Wichtigeres zu tun.
Doch nicht nur Lenz’ Leben hatte sich verändert, auch das politische Klima in der Bundesrepublik änderte sich zusehends. Da war diese neue, von Lenz mit sympathischer Neugier beobachtete Partei der Grünen, die für frischen Wind im Politikbetrieb sorgte. Und da war der neue Kanzler der CDU-geführten schwarz-gelben Koalition, der so gern von der »geisdisch-moralichen Wende« und der »Bummdesrepublik« sprach; von Leuten, die ihn nicht mochten, wurde er wegen seiner Kopfform und seines provinziellen Gehabes billig als »Birne« verspottet.
Für Lenz ein alter Bekannter, dieser neue Regierungschef, hatte Helmut Kohl doch einst im St. Gilgener Supermarkt hinter ihm an der Kasse angestanden. Sympathischer war ihm dessen Politikstil inzwischen allerdings nicht geworden. Seiner Meinung nach betrieb der neue Kanzler eine Art Zeitreise-Politik: »Zurück zu alten Werten« – also weg von vielem, was ihm, Lenz, die Bundesrepublik in den letzten Jahren trotz mancher faulen Stellen sympathisch gemacht hatte.
Auch hatte dieser große, wuchtige Mann keinerlei Gespür für Fettnäpfchen. In Bezug auf die Hitler-Diktatur trompetete der Kartoffelkäufer von St. Gilgen, der so gern die »Gichischte« im Munde führte, ihm sei die »Gnade der späten Geburt« widerfahren. Und wo stieß er so laut ins Horn? In Israel! Ausgerechnet in Israel! Seinen späteren Männerfreund Gorbatschow verglich er in einem Newsweek -Interview locker mit dem Obernazi Goebbels. Und das, bevor er den neuen sowjetischen Staatschef überhaupt kennengelernt hatte. Ein andermal ging es um eine von ihm gemachte Äußerung, an die er sich offiziell nicht mehr erinnern konnte. Worauf ihn ein Parteifreund mit einem Blackout entschuldigte. Wurde gegen seine Politik protestiert, waren die Demonstranten für ihn nichts als Pöbel.
Wie ein Elefant stampfte dieser Kanzler durch die Politik. Lenz’ einziger Trost: Er lebte ja nun in einer Demokratie, so würde er nicht ewig unter dem dicken Pfälzer leiden müssen. – Andere sahen das nicht so eng. Der Mann, der die meisten Probleme des Staates, den er regierte, am liebsten aussaß, sollte sechzehn Jahre lang wiedergewählt werden; sechzehn Jahre, in denen die Bundesrepublik, wie spätere Historiker feststellten, fast alle dringend notwendigen Reformen verschlief.
Die größten Helden der Achtzigerjahre fand man auf dem Tennisplatz. Einer meinte sogar, Deutschland habe auf ihn gewartet. Ein neuer Messias, dieser Boris Becker? Im Radio dudelte die Neue Deutsche Welle: »Da da da!«, das aktive Glück wurde auf Reisen und in Fitness-Studios, das passive vor dem Fernseher gesucht. Aus den wilden Siebzigern waren die milden, verschlafenen Achtziger geworden. Bis im April 86, nachts um halb zwei, plötzlich der Wecker
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