Auf der Sonnenseite - Roman

unterhöhlte ja die Grundmauern aller marxistisch-leninistischer Überzeugungen. Blieb nur zu hoffen, dass die bei klarem Verstand gebliebenen älteren sowjetischen Genossen diesen wild gewordenen jungen Hüpfer mit dem großen, rotweinfarbenen Muttermal auf der schon sehr hohen Stirn, der alle ihre in langen Klassenkämpfen erworbenen und bereits in feste Lehrsätze gemeißelten Erfahrungen einfach beiseiteschob, recht bald ebenfalls beiseiteschieben würden.
    Mal wieder eine spannende Zeit! Hatten Hannah und Manfred Lenz in ihren OstBerliner Jahren voller Interesse mitverfolgt, was Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre im Westen geschah, so beobachteten sie jetzt, vom Westen aus, was im Osten passierte. Und drückten jenen die Daumen, die mutiger waren als ihre Eltern und Großeltern und sich nicht mehr in irgendwelche Nischen zurückziehen, sondern mitarbeiten wollten an der Welt, in der sie lebten. Und das nicht auf die von der Partei vorgegebene, sondern auf ihre ganz eigene, selbst bestimmte Weise.
    In der Hauptsache aber schrieb Lenz. Der Wunsch, zu dem, was er erlebt und beobachtet hatte oder was ihn interessierte, seinen Senf hinzuzugeben, er wurde immer stärker. Gab ja so viele unerquickliche Themen zu bearbeiten. Und es gab so viele Legenden, die sich in den Köpfen festgesetzt hatten und auszuräumen waren, gab so viel gewolltes Unwissen.
    Wie konnte es denn sein, dass in Westdeutschland eine amerikanische Fernsehserie über die Ermordung der Juden in den deutschen KZ als Mitteilung über eine entsetzliche Neuigkeit empfunden wurde? Hatten nicht gleich nach dem Krieg Überlebende über all diese Gräueltaten berichtet? War nicht immer wieder darüber geschrieben und geredet worden?
    Er wollte daran mitarbeiten, dieses Unwissen zu bekämpfen. Es galt, Wurzeln freizulegen, Fehlentwicklungen und Versäumnisse zu benennen. In der Geschichte gibt es keine Betriebsunfälle, alles hat seine Ursachen; es reicht nicht, sich allein über die Wirkung zu beklagen. Ja, und kann man denn Zeitgeschichte tiefgehender vermitteln als über Emotionen? Wen bewegen Jahreszahlen, wen Todesstatistiken, wenn die Opferzahlen unermesslich und unfassbar sind? Schicksale müssen erzählt, Menschen dargestellt, ihre Irrtümer, ihre Ängste, ihr Versagen und ihr Mut geschildert werden.
    Und so schrieb er und schrieb. Und seine Bücher wurden gelesen, in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Das machte ihn auch im Ausland bekannt, und so musste er bald wieder reisen. Anfangs nur im deutschsprachigen Raum, um in Buchhandlungen, Bibliotheken und Schulen aus seinen Werken zu lesen, später schickte ihn das Goethe-Institut in alle Welt hinaus.
2. Allemagne
    D er Kontinent der Aborigines, des Ayers Rock, der Kängurus und Koalabären; sechs Wochen Down Under.
    Über Hongkong ging’s nach Sydney und von dort aus, immer am Stillen Ozean entlang, mit einem kleinen Flieger, dem Lenz nicht viel zutraute, zur ersten Station dieser Tour: Maroochydore, einem Touristenort direkt am Meer. Auf einer Tagung australischer Deutschlehrer sollte er über die deutsche Jugendliteratur informieren und aus seinen Werken lesen.
    Doch ob er jene Tagungsstätte je erreichen würde?
    Der kleine Küstenflieger rumpelte und pumpelte, stürzte ab und fing sich wieder und die Ozeanwellen waren Lenz zeitweise so nah, dass er glaubte, hier, am Ende der Welt, auch sein Ende zu finden. War es da noch von Bedeutung, dass sein grüner Koffer nicht mit an Bord war, weil man ihn auf dem Sydneyer Flughafen nicht hatte finden können?
    Wozu brauchen Wasserleichen Koffer? War vielleicht ganz sinnvoll, dass er nur mit Handgepäck ersaufen würde. So würde Hannah irgendwann wenigstens den Koffer zurückbekommen.
    Dann, während der Landung auf einem weiten, betonierten Feld inmitten endlosen Brachlands, sah er seinen Koffer wieder. Mutterseelenallein stand er in all der Weite und wartete auf seinen Besitzer. Er war ihm vorausgeflogen und nun durften sie ein Wiedersehen feiern, der nicht in den Stillen Ozean abgestürzte Manfred Lenz und sein einsamer grüner Koffer.
    Die Tagung verlief erfolgreich und das Ausflugsprogramm entschädigte mehr als genug für die so lange und am Ende spektakuläre Anreise. Höhepunkt: eine Flussfahrt auf dem Noosa-River. Am Ufer Pelikane, hinter den Büschen Kängurus. Rückfahrt im Jeep durch die Everglades. Emus, Koalas, Wombats und Kookabarras in freier Wildbahn, Badespaß im Ozean.
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