Auf der Sonnenseite - Roman
Reise: die Universität Townsville, nicht weit vom berühmten Great Barrier Riff. Viele Fragen nach den beiden Deutschlands, doch keine Zeit, um mal auf Tauchstation zu gehen. Wen Goethe schickt, der hat zu tun.
Und weiter ging’s: Brisbane, Sydney, Adelaide, Canberra, Melbourne. Ein Deutscher unterwegs in Sachen Deutschland. Schön und interessant die Pinguine, wie sie in der Dämmerung aus dem Meer kamen, in dem sie sich sattgefischt hatten, weniger schön die Begrüßung durch einen lustig grienenden, nur wenig Deutsch sprechenden australischen Schüler: »Heil – Hitler! Wie – geht’s – dem – Führer?«
Hatte er so etwas Ähnliches nicht schon mal erlebt, Jahre zuvor in Bukarest? Musste er, Manfred Lenz, erst Bundesbürger werden, um von der deutschen Vergangenheit eingeholt zu werden?
Während seiner Reisen als DDR-Bürger hatte er nie solche Erlebnisse gehabt. Woran lag das? Glaubte man im Ausland allen Ernstes, in der DDR lebten nur Kommunisten? In Bukarest jedoch war es ein alter, Schnaps trinkender, ehemaliger Wehrmachtsverbündeter gewesen, der geglaubt hatte, dem Westdeutschen eine Freude zu bereiten, wenn er ihn an die aus seiner Sicht glorreiche deutsche Vergangenheit erinnerte. Hier war es ein Schüler am anderen Ende der Welt, keine vierzehn Jahre alt, dem bei seinem Anblick kein besserer Scherz eingefallen war. Was sollte er ihm antworten?
Am besten gar nichts. So boxte er dem sommersprossigen Rotschopf nur freundschaftlich in die Seite und sprach nach seiner Lesung darüber, was dieser Krieg, der von Deutschen angezettelt worden war, seiner Heimatstadt Berlin, Deutschland, Europa und der ganzen Welt für Schmerzen zugefügt hatte. Aufmerksam hörten sie zu, die Schüler und Schülerinnen, ob irgendetwas hängen bleiben würde, konnte er nur schwer einschätzen.
Ein Erlebnis, das eher schnell abgehakt war; ein anderes, ihm mehr zusetzendes erwartete ihn in Melbourne.
Hilde Friedländer, eine ehemals deutsche Jüdin, seit ihrer Kindheit in Melbourne lebend, hatte eine Einladung des Senats von Berlin erhalten. Man bot ihr, wie so vielen anderen rechtzeitig vor der Nazivernichtungsmaschinerie aus Deutschland Geflohenen, an, einmal ihre Heimstadt wiederzusehen, das neue Berlin. Sie sei herzlich willkommen.
Eine Einladung, die sie zutiefst erschreckte: Als alte Frau sollte sie die Stadt wiedersehen, in der sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr zu Hause gewesen war? Man bot ihr an, jenes Land zu besuchen, in dem alle ihre Familienangehörigen ermordet worden waren? Ja, wollte sie das denn überhaupt? Zwar war da sofort eine drängende Neugier in ihr erwacht, gleichzeitig aber auch ein Gefühl der Abwehr. Fünfzig Jahre war es nun her, seit sie ihre Heimatstadt verlassen musste, und vor vierzig Jahren, nachdem sie vom Schicksal ihrer Angehörigen erfahren hatte, hatte sie sich geschworen, nie mehr Deutsch zu reden. Und sich bisher an diesen Schwur gehalten. Wenn sie »heimkehrte« in das Land der Mörder – wenn auch nur zu Besuch –, würde sie diesen Schwur brechen müssen. In Deutschland nur Englisch zu reden, das war unmöglich.
Sie zögerte noch, da las sie in der Zeitung, dass ein junger deutscher, ebenfalls in Berlin geborener und dort aufgewachsener Autor im Goethe-Institut einen Vortrag halten würde. Dieser Manfred Lenz, so las sie, hatte erst 1943 das Licht der Welt erblickt, konnte also, wie sie mit Erleichterung feststellte, nicht an den Naziverbrechen beteiligt gewesen sein. Sie las die Ankündigung dreimal, dann beschloss sie, den jungen Mann kennenzulernen. Sie wollte herausfinden, wie die Nachkriegs-Deutschen ihre Vergangenheit sahen – und ob sie reisen sollte oder doch besser nicht.
Noch bevor sie es sich anders überlegen konnte, griff sie zum Telefon und rief den Institutsleiter an. Ob jener Schriftsteller wohl mal ein paar Stunden Zeit für sie habe?
Kaum war Lenz in Melbourne eingetroffen, erzählte der Institutsleiter ihm Hilde Friedländers Geschichte. Ob er sich als Prüfstein zur Verfügung stellen wolle?
Kein sehr angenehmer Willkommensgruß. Wieso sollte denn er, Manfred Lenz, als Stellvertreter für ein ganzes Volk herhalten? Ja, und was, wenn diese Hilde Friedländer, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, auf einen Besuch ihrer Heimatstadt verzichtete? Dann hatte er die Prüfung nicht bestanden.
Letztendlich aber erklärte er sich doch zu einem Treffen bereit. Irgendwer musste schließlich den Kopf hinhalten. Sie kam zu ihm ins Institut und er war
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