Auf der Sonnenseite - Roman
zögerte einen Augenblick. »Sind Sie berühmt?«
»Nein, nein!«, beruhigte ihn Lenz. »Sie müssen mich nicht kennen.«
Der junge Mann überlegte einen Moment, wie diese Bemerkung gemeint sein könnte – offensichtlich wusste er mit Schriftstellernamen nicht viel anzufangen –, dann machte er wieder sein Dienstgesicht und durchwühlte noch einmal das Wageninnere. Sicher war sicher, bei Schriftstellern wusste man nie!
Lenz wartete, bis er fertig war und ihm mit mürrischer Miene bedeutete, dass er weiterfahren durfte, stieg ein – und zögerte: Sollte er nun, da sie festgestellt hatten, dass er kein gesuchter Terrorist war, mal mit diesen Männern reden? Sollte er ihnen von Silke und Micha und ihren Freunden erzählen, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie mit ihrer brachialen Art die Terroristen, die sie jagten, vielleicht auch selber züchteten? – Doch nein! Wozu? So, wie die ihn noch immer anstarrten, würden sie seine Sorgen gar nicht verstehen.
»Na denn – gute Nacht!«, wünschte er nur noch, kurbelte sein Fenster wieder hoch und fuhr weiter durch den Nebel. Doch ließ er das Autoradio nun schweigen. Seine Stimmung hatte sich dem Wetter angepasst, und zum ersten Mal seit Jahren verlangte es ihn wieder nach einer Zigarette. Fast wie damals, als er in seiner Stasi-Zelle saß, noch starker Raucher war und nichts zu rauchen hatte. Da hatte er vor lauter Verzweiflung mal in seinen Hosentaschen gewühlt, ob er darin nicht doch einen Krümel Tabak fand, obwohl er genau wusste, dass er nicht fündig werden würde. Jetzt musste er sich beherrschen, nicht ins Handschuhfach zu schauen, wo der Raucher Lenz immer seine Zigaretten liegen hatte, eine solche Nikotingier überkam ihn plötzlich.
Er schüttelte über sich selbst den Kopf: Ging das so rasch, steckte die Sucht noch immer in ihm? Ein unangenehmes Erlebnis und schon rauchte er wieder? War ja einfach, an der nächsten Tankstelle gab es Zigaretten. Nichts wie hin und sich eine Schachtel geholt. Weder die Kinder, die längst nicht mehr auf das Fünfzig-Mark-Strafgeld hofften, noch Hannah würden es je erfahren; er konnte ja vor der Haustür noch ein paar Pfefferminzbonbons einwerfen. Aber nein, ein Schild mit dem Hinweis auf die nächste Tankstelle kam – und Lenz gab Gas und raste vorbei.
Was war denn schon groß passiert? Eine Routinekontrolle, mehr nicht! Wegen diesem Mick Jagger würde er doch nicht rückfällig werden! Er konnte sich ja nicht mal über irgendwas beschweren, hatte es mit eher harmlosen Staatsschützern zu tun bekommen. Was ihm zusetzte, war ja nur die Arroganz dieser Männer, dieser unsägliche Befehlston. Und das gegenüber wem? Gegenüber denen, von denen sie behaupteten, dass sie sie beschützten.
Bei Hannah Arendt hatte er gelesen, das Böse sei banal; der Biedermann müsse nur von einer Autorität dazu aufgefordert werden, schon sei er zu allem bereit. Zweifellos galt das im Großen wie im Kleinen. Diese Männer mit ihren Maschinenpistolen und Taschenlampen, was wäre wohl zu anderen Zeiten aus ihnen geworden?
Auf diese Weise versuchte Lenz, jenes Erlebnis zu verarbeiten. In der Nacht darauf aber saß er wieder in Stasi-Haft. Und sein Vernehmer, eine ihm bis dahin unbekannte fleischig-feiste Type mit großen, vergnügt blinzelnden Augen und stark behaarten Ohrmuscheln, lachte ihn aus und sagte: »Und Sie meinen, Sie kommen hier noch mal raus? Ja, leben Sie denn in einer Märchenwelt? Nur im Märchen hilft das Wünschen, im wirklichen Leben geht alles seinen von der Staatsmacht vorgeschriebenen Gang.«
Sagte es und kicherte, wie es zu so einem vierschrötigen Kerl eigentlich gar nicht passte, und sein Gekicher wurde lauter und lauter und hallte von den Wänden wider, bis Lenz endlich erwachte.
Mit fliegendem Puls blickte er um sich.
Hannah musste ihn beruhigen. »Du hast mal wieder geträumt. Nur geträumt!«
Ein Traum? Nur ein Traum? Ja! Doch wie viel Realität war darin eingeflossen? Und waren die Ähnlichkeiten wirklich rein zufällig?
9. Schnee von gestern
T rotz aller Maßnahmen des Staates, das Morden ging weiter. 1986 traf es mit Karl Heinz Beckurts ein Vorstandsmitglied der Firma Siemens und seinen Fahrer Eckhard Groppler, Ende November 1989 – drei Wochen nachdem in Berlin die Mauer gefallen war und die Wellen der Euphorie hochschlugen zwischen Rostock und München, Flensburg und Dresden und auch innerhalb der Familie Lenz – den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank Alfred Herrhausen.
Und noch 1991,
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