Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
Vom Netzwerk:
beeindruckt. Zwar sah diese Hilde Friedländer älter aus, als sie war – erst zweiundsechzig, wirkte sie wie siebzig –, doch war das ein Wunder nach all dem, was sie erlebt hatte?
    Ihr rabenschwarzes Haar war gefärbt, der Mund ein wenig zu kräftig geschminkt und die Haut viel zu faltig, zu trocken und zu weiß. Aber da waren ja noch die Augen! Lenz hatten bei einem Menschen die Augen schon immer am meisten interessiert, doch in so schwarze, prüfend blickende Augen, die sich dennoch eine gewisse naiv staunende Unschuld bewahrt hatten, hatte er zuvor noch nie geschaut.
    Am Anfang, sie hatte ihn in ein kleines Restaurant zum Essen eingeladen, sprachen sie nur Englisch miteinander. Hilde Friedländer erklärte das mit jenem Schwur, den sie einst geleistet hatte, und Lenz hatte dafür Verständnis. Danach fragte sie ihn aus, über seine Kindheit, die Berliner Straßen, in denen er aufgewachsen war, seine Frau, seine Kinder.
    Zum Schluss eine Frage, die Lenz schon erwartet hatte: Ob seine Eltern Nazis waren?
    Wie war er froh, Nein sagen zu dürfen. Weder sein Vater, der im Waisenhaus aufgewachsen und im Krieg gefallen war, noch seine Mutter, die drei Kinder großzuziehen hatte und in Kriegs- und Nachkriegszeiten eine Berliner Eckkneipe führte, hatte sich viel um Politik gekümmert. Das entlastete sie nicht – es gab Zeiten, in denen man sich kümmern musste, wollte man nicht unschuldig schuldig werden –, doch gehörten sie weder zu den Tätern noch zu den Unterstützern oder Helfershelfern der Täter. Gerade seine Mutter hatte trotz ihres nervenaufreibenden Lebens immer gewusst, was richtig und was falsch war, und war viele Jahre lang mit einem jüdischen Schneidermeister befreundet gewesen, der die letzten Jahre der Nazizeit im Kellerversteck überlebt hatte. Doch sollte er jenen kleinen, runden, stoppelhaarigen Maxe Rosenzweig, den er als Kind so gemocht hatte, etwa als billiges Alibi anbringen? – Er verschwieg diese Freundschaft lieber.
    »Und die Eltern Ihrer Frau?«
    H. H. M., sein Schwiegervater, war einer der ersten Berliner Nazis gewesen. Ganz niedrige Mitgliedsnummern in Partei und SA, wie er noch immer gern erzählte. Ein Eingeständnis, das Lenz einer Jüdin gegenüber nicht leichtfiel, doch hätte er es nicht über sich gebracht, diese Frau zu belügen.
    »Und?«, fragte sie leise. »Wie denkt er jetzt darüber? Hat er Schuldgefühle?«
    »Wenn er welche hat, gibt er sie nicht zu. Im Gegenteil, da ist wohl noch immer so ein gewisser Stolz in ihm … War ja seine Jugend und die will er sich nicht ›kaputt reden‹ lassen.« Lenz seufzte und spürte, wie er rot wurde. »Ja, und das mit den Juden, das, so seine Worte, sei Hitlers einziger großer ›Fehler‹ gewesen … Er … er hat es tatsächlich benutzt, dieses Wort: Fehler!«
    Eine Antwort, die das Eis brach. Hilde Friedländer wusste nun, dass er nichts beschönigen wollte. Auf einmal sprach sie Deutsch mit Lenz, zuerst nur sehr gebrochen, mühsam die Wörter suchend, dann fließender, wenn auch häufig mit englischen Vokabeln durchsetzt. Sie erzählte von ihrer Kindheit, wie und wo sie gelebt hatte im alten Berlin und wie ihre Eltern eines Tages, früh morgens um sechs, mit ihr zum Schlesischen Bahnhof gefahren waren, um sie mit einem Kindertransport nach London zu schicken. Die schwarzen, so prüfend blickenden Augen fest auf Lenz gerichtet, schilderte sie, wie sie sich an diesem grauen, nebligen Novembermorgen vor dem Bahnhof von ihren Eltern verabschieden musste, weil es den Müttern und Vätern nicht gestattet war, ihre Kinder auf den Bahnsteig zu begleiten. Kein »Arier« sollte diese herzzerreißenden, tränenüberströmten Szenen mitbekommen, damit die Nazis wegen der eventuell negativen Wirkung auf die Bevölkerung nicht weitere Rettungstransporte verboten. »Aber ob das alles – die frühe Morgenstunde und der Abschied vor dem Bahnhof, diese ganze Geheimnistuerei – wirklich notwendig gewesen war, ich weiß es nicht.«
    In Lenz stiegen Schuldgefühle auf. Er war nicht dabei gewesen, hatte gar nicht dabei sein können, und doch: Es waren seine Leute, die all das, was damals geschehen war, zu verantworten hatten. Seine späte Geburt war keine Gnade. Mochten andere sich damit herausreden, dass nicht nur Deutsche unvorstellbar grausame Verbrechen begangen hatten; was die Nazimaschinerie angerichtet hatte, war mit nichts zu vergleichen, durch nichts zu erklären und mit nichts zu entschuldigen.
    In Gruppen, so erzählte Hilde

Weitere Kostenlose Bücher