Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
sich durch eine Verkrümmung ihrer Wirbelsäule. Und noch ein weiteres auffälliges Merkmal stellte der Rechtsmediziner am Torso fest. Ihre stark vergrößerte Schilddrüse hatte einen auffälligen Kropf gebildet.
Das Ergebnis der Obduktion ließ uns auf eine schnelle Identifizierung des Opfers hoffen. Eine solche eher ungewöhnliche Erscheinung musste doch jemandem aufgefallen sein. Und so war es auch. Bereits die ersten Nachfragen meiner Kollegen in Gaststätten in der Nähe des Torso-Fundortes waren erfolgreich. Mehrere Inhaber und Gäste von Lokalen meinten nach der Beschreibung die 50-jährige Sozialhilfeempfängerin Agnes Brendel zu erkennen.
Agnes Brendel galt in der Kneipenszene als lebenslustige, gesellige Frau, die gerne trank, aber nur selten eigenes Geld hatte. Wegen ihrer kauzigen Art und ihres ungewöhnlichen Aussehens galt sie in ihrem Stadtteil und den Gaststätten als Original. Zwar war sie in den letzten Tagen nicht mehr gesehen worden, hatte zuvor aber regelmäßig verschiedene Lokale besucht. Das passte zu dem mir inzwischen vorliegenden toxikologischen Untersuchungsergebnis, waren bei der Toten doch 2,7 Promille Blutalkohol nachgewiesen worden. Als sie starb, musste sie im Vollrausch gewesen sein.
Bei allen Mordermittlungen wie auch in der Fallanalyse spielt das Opfer immer eine große Rolle. Deshalb muss bei beiden Ansätzen immer nach der Opferpersönlichkeit gefragt werden. Denn es geht auch darum, ob das Opfer vom Täter gezielt ausgesucht wurde oder einfach nur das Pech gehabt hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Zu Agnes Brendel konnte ich also sagen, dass sie gerne und viel trank. Genauer gesagt: Sie war Alkoholikerin, und die von ihr frequentierten Kneipen hatten nicht den besten Ruf. Die Umschreibung »gesellige Frau« besagte auch, dass sie häufig Kontakte mit Männern hatte und bei der Wahl ihrer spontanen Intimpartner anscheinend nicht sehr wählerisch gewesen war.
Für unsere Ermittlungen bedeuteten diese Auskünfte, dass der Täter ganz schnell und einfach mit Agnes Brendel Kontakt aufnehmen konnte. Ein oder zwei spendierte Biere dürften ausgereicht haben, um ihr Interesse zu wecken.
Agnes Brendel wohnte gemeinsam mit ihrem langjährigen, jüngeren Lebensgefährten Egon Finck in einer kleinen Siedlung. Während der Zeit des Nationalsozialismus war das Quartier mit einer Mauer umgeben und als sogenannte »Besserungsanstalt« missbraucht worden. Hier lebten vollständig überwacht vermeintlich »Asoziale«, denen nach der Ideologie der damaligen Machthaber »deutsche Familienwerte vermittelt« werden sollten. Auch wenn diese Mauer zur Tatzeit längst abgerissen war, so hatte die Siedlung ihren geschlossenen Charakter noch nicht abgelegt. Die meist sozial schwachen Bewohner kannten sich untereinander und somit auch Agnes Brendel. Dieser Umstand konnte für die weiteren Ermittlungen von Vorteil sein.
Da ich aber Sicherheit brauchte, ob es sich bei der unbekannten Toten tatsächlich um Agnes Brendel handelte, und die kriminalistische Erfahrung zeigt, dass Frauen häufig von ihrem aktuellen oder einem früheren Intimpartner getötet werden, bat ich als Erstes zwei Kollegen, Egon Finck zur Vernehmung zur Dienststelle zu holen.
Egon Fincks Beschreibung von seiner Lebensgefährtin deckte sich mit den Obduktionsbefunden des Torsos: sehr klein, verkrümmte Wirbelsäule, buckelig, Kropf, keine Kinder. Die endgültige Bestätigung, dass es sich bei der Toten tatsächlich um Agnes Brendel handelte, bekam ich allerdings erst später, nachdem ein Radiologe die bereits in einem Krankenhaus vorliegenden Röntgenaufnahmen von ihrer Wirbelsäule mit den bei der Obduktion gemachten Aufnahmen verglichen hatte. An die Möglichkeiten, wie sie heute die moderne DNA-Analytik mit ihren genauen Nachweismethoden bei Blut, Haaren oder Speichel bietet, war Anfang der 80er Jahre noch nicht zu denken. Aber trotzdem, der Torso war auch so eindeutig als Agnes Brendel identifiziert.
Als ich Egon Finck erklärte, dass seine Freundin ermordet worden war, schien er ehrlich erschüttert. Eine Idee, wer der Täter sein könnte, hatte er nicht. Ziemlich unwirsch antwortete er: »Bestimmt jemand aus den Kneipen. Weiß auch nicht, mit wem sie da zusammen ist. Da gehe ich auch nicht hin. Will doch nicht dabei sein, wenn sie mit anderen rummacht.«
Die weitere Vernehmung von Egon Finck gestaltete sich schwierig. Der intellektuell eher minderbegabte Mann hatte große Probleme sich zu erinnern, wann er
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