Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
Vorwort
Ich weiß nicht, was das Böse ist, auch wenn sich seit 1970 in meinem Beruf nahezu alles um Mord und Totschlag, Opfer und Täter, Schuld und Sühne dreht: zunächst in verschiedenen Positionen in der Mordkommission und seit 1999 als Fallanalytiker – als sogenannter Profiler.
Der Erste, der mir beibringen wollte, was das Böse ist, war ein Pastor. Es war märchenhaft, wie gut er sich mit Paradies, Sündenfall, Hölle und Teufel auskannte. Ich habe aber schon damals nicht an Märchen geglaubt. Als wir später in der Schule Faust durchnahmen, versuchte unser Lehrer uns klarzumachen, dass Goethe an Mephisto zeigt, was das Böse ist, »das Böse schlechthin«. Aber auch das überzeugte mich nicht. Für mich bleibt Mephisto die literarische Neuauflage des Teufels aus dem Konfirmandenunterricht, ein Böser, der mit den Bösen der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Viele Jahre später habe ich meinen Lehrer wiedergetroffen. Er wollte wissen, was ich beruflich mache. Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Ich bin Kriminalkommissar in der Mordkommission.« »Ah, auf der Spur des Bösen!«, sagte er prompt.
Sie werden sich wundern, aber als ich 1970 als junger Eleve zur Bereitschaftspolizei ging, war mir nicht bewusst, dass sich mein weiteres berufliches Leben fast ausschließlich um Mord und Totschlag drehen würde. Mit meinem Pilzkopf passte ich so gar nicht in das Bild des typischen Polizeibeamten, und mein Anliegen bestand damals auch vornehmlich darin, keinen Wehrdienst ableisten zu müssen – denn als Polizist war ich davon befreit. Als mich jedoch später mein Kriminalistikdozent – ein früherer Leiter der Mordkommission – mit seinen differenzierten Berichten von wahren Morden aus Bremen fesselte, reifte schnell mein Entschluss: Ich wollte auch Mordermittler werden.
Heute kann ich gar nicht mehr genau sagen, was mich damals so sehr an dieser Vorstellung reizte: War es meine jugendliche Begeisterungsfähigkeit? Die Faszination und das Unerklärbare des Verbrechens? Die Suche nach der Wahrheit? Vielleicht von allem ein bisschen. Wenige Jahre später und nach weiteren Ausbildungsschritten war ich dann tatsächlich in der Mordkommission angekommen. Eine Entscheidung, die ich nie bereut habe, denn einen selbständigeren, einen verantwortungsvolleren und abwechselungsreicheren Beruf kann ich mir nicht vorstellen – auch und gerade weil er sich fast immer mit den Abgründen des menschlichen Verhaltens beschäftigt.
Meinen Lehrer habe ich nicht gefragt, wie er das mit der Spur des Bösen gemeint hat. Ich bin auch nicht sicher, ob ich eine befriedigende Antwort erhalten hätte. Eine vage Vorstellung davon hat sicher jeder, aber wer käme nicht ins Stottern, wenn er erklären sollte, was genau das Böse eigentlich ist oder wie es entsteht.
Zum Glück muss ich diese Frage auch nicht klären, ich käme gar nicht mehr dazu, meine Arbeit zu machen. Lieber halte ich mich an einen Satz, der weder besonders philosophisch ist noch pastoralen oder pädagogischen Tiefsinn enthält: »Das Gute ist, dass das, was das Böse ist, im Strafgesetzbuch steht.« Nur ein Satz aus der Sprüchesammlung der Kriminalpolizei, aber eine gute und klare Arbeitsgrundlage – vorausgesetzt, man lebt und arbeitet in einem demokratischen Rechtsstaat.
Das deutsche Strafgesetzbuch gibt sich mit einer Schwarzweißbetrachtung von Gut oder Böse nicht zufrieden. Unser StGB verbindet die spezielle Art eines Tötungsdelikts jeweils mit einem besonderen Strafmaß. Das Strafmaß für einen Mord fällt höher aus als das für einen Totschlag. Auch bei den Tatmotiven sieht das Strafgesetzbuch dann noch einmal sehr genau hin. Es bewertet den Mörder, der seine Tat aus Habgier begangen hat, anders als denjenigen, der seinen Peiniger auf die gleiche Art und Weise tötete. Schlicht gesagt: Das Gesetz unterscheidet zwischen mehr oder weniger böse. Und die Staatsanwälte, die bei Tötungsdelikten die Anklage vertreten, erwarten von mir, dass ich ihnen die Möglichkeit gebe, das Mehr und Weniger beurteilen zu können. Genau darin bestand und besteht meine Arbeit, als Mordermittler wie als Fallanalytiker: präzise Aussagen über Opfer, Täter, Tathergang, Tatumstände und Tatmotiv zu machen.
In Deutschland werden seit Jahren konstant zwischen neunzig und fünfundneunzig Prozent aller Tötungsdelikte in sehr kurzer Zeit aufgeklärt – oft bereits noch am selben Tag. Häufig sind es Beziehungsdelikte; die Täter stammen zumeist aus dem Kreis der Bekannten und
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