Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
sinnlos, die Wünsche unerfüllbar geworden. Vor wem sollten sie tanzen? Wer kürte sie zu Stars? Wer sagte ihnen, dass sie keine Nigger mehr wären? Wer spendete ihnen noch Applaus?
    Da gingen sie weiter, ohne jedes Ziel, schlenderten zum Takt ihrer Musik durch die Häuserschluchten von Midtown.
    Die Tempel menschlichen Größenwahns glänzten hoch über ihnen in der Sonne, das Empire State Building, das Chrysler Building, und weitab im Süden die Zwillingstürme des World Trade Centers. Eine grandiose Ansammlung nutzlosen Spielzeugs. Leer, entvölkert. Und hunderttausend blinde Fenster blickten auf sie herab.
    Sie liefen durchs Village, durch Little Italy, durch Chinatown, nahmen sich Obst aus den Körben vor den Läden, Sandwiches und Coke aus den Regalen. Und sie entdeckten, dass es nichts gab, was ihnen fehlen würde. Eine ganze Stadt offerierte ihnen großzügig alle ihre Schätze. Und sie mussten mit niemandem teilen.
    Sie kamen zur Westside. Dort standen die halbgeleerten Trucks mit gefrorenem Beef und offenen Luken. Die Rinderhälften an den Haken tauten bereits auf und verbreiteten einen süßlichen, penetranten Geruch und waren schwarz übersät von Fliegen.
    Der Hudson lag still und ölig vor ihnen wie ein nächtlicher See. Kein Boot war zu sehen, kein Schleppkahn mit Müll, keine Fähre, kein Frachter, kein Lotse.
    Und als die Musik ihres Recorders verjaulte, weil die Batterien am Ende waren, schleuderte Thomas Malcolm Mutaza das Gerät in den Fluss. So weit er konnte. Und die Möwen schreckten auf, schossen mit klagendem, kreischendem Lachen in den Himmel.
    Ringe breiteten sich langsam aus über das Wasser, brachen sich am Kai und liefen zurück.
     
    Sie hatte zu alledem nichts gesagt. Kein einziges Wort. Sie hatte nur nach seinem Arm gegriffen und sich dicht an ihn gelehnt.
    Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, in Jersey, war es genauso still wie hier über der Stadt. Die Luft war klar. Der Himmel von einem nie gesehenen Blau. Keine Rauchschwaden quollen aus den Schornsteinen der Stahlwerke, weder Staub noch Dunst trübte den Blick, nach Richmond, nach Brooklyn, bis hin zum fernen Horizont. Und wohin sie auch schauten, es boten sich ihnen nur die trügerischen Bilder tiefsten Friedens.
    Da wandten sie sich ab, liefen zurück. Den ganzen, langen Weg. Nach Hause. Dorthin, wo sie sich sicher fühlten, wo ihnen der Frieden vertrauter war als hier.
    Seit die Musik verstummt war, lag wieder diese unendliche Stille über Manhattan.
    Aber sie erschien ihnen nun nicht mehr unheimlich, feindselig und fremd.
    So musste es gewesen sein, damals, als es diese große Stadt noch nicht gab. Das Schweigen in den Wäldern des Westens, über den Bergen, den dunklen Seen, könnte so sein. Sie ahnte es nur. Denn sie hatten ja beide diese Stadt noch niemals verlassen.
     
    Auf der Fifth Avenue wanderten sie zurück. In der Mitte dieser verwaisten Straße. An der Public Library vorbei, wo nun vierzig Millionen Bücher nutzlos verstaubten, an der St. Patrick’s Cathedral, wo einhundert Jahre lang Gottes Zorn und das Jüngste Gericht vergeblich verkündet worden waren.
    »Glaubst du an Gott?«, fragte sie ihn. Und er schüttelte nur den Kopf. Und erst nach einer Weile sagte er »Nein!«. Und wieder nach einer Weile erklärte er ihr, warum: »Weil er uns Schwarze gedemütigt hat. Zu allen Zeiten. Darum!«
    Da sie mit dieser Antwort offensichtlich nicht zufrieden war, ihn immer noch fragend ansah, fügte er noch hinzu: »Und weil er tatenlos zusieht, wie Hunderttausende oder Millionen schwarzer Kinder in jeder Minute verhungern und verrecken. Weil er Unschuldige leiden lässt. Krepieren in sinnlosen Kriegen. Weil er die Habgier regieren lässt. Und korrupte Schweine. In seinem Namen. Darum!«
    »Jetzt wohl nicht mehr …«, sagte sie nur. Aber er ging nicht darauf ein. Schüttelte nur noch einmal den Kopf und nahm sie fester an der Hand.
    »Wenn es ihn aber gibt«, fuhr er nach einer langen Pause fort, »dann hat er sich das alles, was heute Nacht hier geschehen ist, ausgedacht. Dann ist es ein Plan. Ein Plan, dieses gottlose, frömmelnde Land zu bestrafen. Dieses Land der weißen Pharisäer. Die es Gottes-eigenes-Land nennen und mit ihrem Geld die Welt beherrschen. Und nun hat er diesem arroganten Treiben ein Ende gemacht. Und wir beide, wir sind ein Teil dieses Plans. Damit alles wieder einen Anfang nimmt …«
    Sie schwieg und dachte, ich will das nicht!
    Ich will nicht Teil eines Planes sein, den ich nicht begreife!

Weitere Kostenlose Bücher