Auf der Straße nach Oodnadatta
Geschmack. Langsam ließ das hysterische Zittern nach, sie begann sich zu entspannen, ihr Rücken wurde weich, die steifen Schultern gaben nach, der Krampf wich aus ihrem Nacken, sie hob den Kopf und sah ihn an.
Dann schaute sie in die Reihe der versetzten und fleckigen Spiegel. Da standen sie nun, nebeneinander, Hand in Hand, zwei Farbige, Tanzeleven, fast noch Kinder, in den Spiegelreihen vertausendfacht, bis hin zur Unendlichkeit. Und sie dachte: Warum?
Warum wir? Warum wir zwei? Warum wir und nicht andere! Warum sind wir übrig geblieben? Ich, Lizzy Janice Turner, bin sechzehn Jahre alt, und er, Thomas Malcolm Mutaza, ist einundzwanzig? Warum wir Schwarze? Warum zwei Nigger? Zwei von drei Millionen Underdogs aus Hartem?
Warum nicht zwei Weiße? Sind wir schöner? Wichtiger? Begabter? Oder hat man uns einfach vergessen? Weil wir so unwichtig sind? Wir beide: Ich Lizzy Janice Turner? Und er Thomas Malcolm Mutaza?
Oder sind wir auserwählt?
Warum?
Und da sie das alles nur gedacht hatte und er über ihre Fragen nichts erfuhr, und da er ohnehin keine Antwort gewusst hätte, nahm er sie bei der Hand, und sie gingen fort.
Sie gingen so, wie sie waren. Im Trainings-Dress, zerfetzte Wolle, Trikot, bunte Flicken, Tanzschuhe. Und den Kassettenrecorder nahmen sie mit.
Draußen würde vielleicht alles ganz anders sein, anders als noch vor zwei oder drei Stunden: So, wie es immer war, wie sie es gewohnt waren, laut, hektisch, voller Menschen. Und voller Leben.
Er hatte die Musik wieder eingeschaltet. Der Song dröhnte durch das Treppenhaus, durch die Eingangshalle und schließlich über die Straße.
Die Fassaden warfen den schrillen, blechernen Sound zurück, den Song, den Rhythmus, die Schlag-Gitarre, die Flöten: song-of-freedom.
Der übertönte die lastende Stille über der Stadt. Ein Hauch von Leben war dieser toten Welt zurückgegeben. Denn nichts hatte sich geändert in den paar Stunden, in denen sie getanzt und sich betäubt hatten.
Sie waren immer noch allein.
Lizzy Janice Turner und Thomas Malcolm Mutaza liefen durch die große Stadt. Durch ihre Stadt. Niemand machte sie ihnen streitig.
Niemand bedrohte sie. Niemand verfolgte sie. Und trotzdem saß ihnen die Angst im Nacken, und sie rannten los.
Sie jagten die Amsterdam Avenue hinunter, Hand in Hand, fünfunddreißig Blocks, bis zur 72. Straße. Dort blieben sie stehen, atemlos, verstört, fassungslos. Lange und quälende Minuten.
Dann wanderten sie weiter. Langsamer jetzt, besonnener, abwartend, vorsichtig witternd von Block zu Block, den Broadway entlang, am Lincoln Center vorbei, an der Metropolitan Opera und dem Gebäude der New York Ballett Company, aber sie nahmen das alles nicht wahr. Denn sie waren auf der Suche nach einer Spur von Leben.
Am Columbus Circle machten sie den nächsten Halt. Vor dem Coliseum türmte sich das zusammengewehte Papier, Prospekte und Werbeposter einer Verkaufsmesse, die keiner mehr besuchte.
Die Dealer am Eingang zum Central Park waren verschwunden, die Rollschuhläufer und Jogger, die Baseball-Spieler drüben im Green, die Radfahrer, die Pferdekutschen, die Spaziergänger.
Und doch war da etwas, das sie hoffen ließ, wonach sie verzweifelt gesucht hatten: Denn hoch über den kunstvollen Giebeln und Dächern und Türmen kreisten riesige Schwärme von Tauben.
Nur die Menschen waren verschwunden aus dieser Stadt, waren fort, geflüchtet oder weggehext, ausgelöscht, getilgt aus dieser Schöpfung, hier oder vielleicht auch überall, rund um diesen kleinen Planeten, nach über zwei oder auch vier Millionen Jahren.
Vielleicht hatte so etwas wie eine neue Sintflut stattgefunden und nur zwei, die ohne Schuld waren, hatten überlebt.
Lizzy Janice Turner und Thomas Malcolm Mutaza hielten sich an den Händen und schwiegen. Es gab nichts, worüber sie hätten reden können. Außer einem. Aber sie hatten beide aufgehört, nach dem Warum zu fragen. Sie würden keine Erklärung bekommen. Woher auch. Das Rätsel war nicht zu lösen.
Die Wirklichkeit war, wie sie eben war: Absurd. Geheimnisvoll. Grotesk. Und das Leben ging weiter. Ihr Leben. Ihr beider Leben – ganz allein.
Am Broadway und seinen Nebenstraßen lagen die Musical-Theater aufgereiht in bunter Reihe. Die Titel der Stücke, die Namen der Stars, prangten immer noch an den Fassaden. Hier, innerhalb dieser kurzen Meile, hatten immer ihre kühnsten Träume geendet. Alle ihre Hoffnungen.
Und jetzt waren alle diese Träume zu Ende, die Mühe umsonst, die Hoffnungen
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