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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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zur Manhattan Avenue, den Morningside Park entlang nach Süden bis zur 107. Straße, dann rechts in Richtung West Side bis hinunter zur Amsterdam Avenue.
    Es war immer der gleiche Weg, jeden Werktag-Morgen, und immer die gleiche Zeit. Zehn Minuten Joggen, Warmlaufen, Muskeln lockern, Durchatmen, zwischen den Abgasen der Wagenkolonnen, die sich in der rushhour stauten, zwischen den zahllosen Pendlern, die aus den Häusern strömten, auf ihrem Weg zur Subway.
    Aber heute begegnete ihnen auf dem ganzen Weg kein einziger Mensch. Kein Wagen kam ihnen entgegen. Keiner überholte sie. Die Stadt war leer. Und er, der neben ihr lief, schien es nicht zu bemerken.
    Im Laden von Cohen’s Delikatessen waren sie die einzigen Kunden. Sie holten sich, wie jeden Morgen, ihre Milch aus dem Kühlfach und ihr Sandwich von einem Regal.
    Der ohnehin schon schmuddelige Laden wirkte diesmal besonders düster und dumpf. Die Leuchtstoffröhren brannten nicht, die Ventilatoren an der Decke standen still, und der alte Cohen saß nicht hinter der Kasse.
    Die unaussprechliche Angst in ihrer Brust begann ihr den Atem zu lähmen. Sie fasste nach seinem Arm. Aber er reagierte nicht.
    Er wühlte nur in den Taschen seiner Jeans, knallte die abgezählten Münzen auf den Tisch, fünf Quarter und einen Dime, und schaute sich um.
    »He!«, rief er. »He! Ist da niemand?«
    »Nein«, sagte sie nur leise und senkte den Blick, weil sie unsicher war. »Nein. Da ist niemand.« Und dann legte sie die Stirn auf seine Schulter.
    Er wirkte immer noch unbeschwert, fand es sogar lustig: »Verdammt noch mal! Wo sind die alle?«
    »Fort!«, sagte sie nur und wandte sich ab. Er sollte nicht sehen, was in ihrem Gesicht vorging. Weil sie ihn hintergangen hatte. Weil sie ihm bisher verschwiegen hatte, was geschehen war, was sie sah und erlebte. Und was sie bewegte. Und was sie nicht aussprechen konnte. Nicht einmal ihm gegenüber, von dem sie wusste, dass sie ihn liebte.
    Er antwortete nicht. Schaute sie in diesem Augenblick vermutlich fragend und verständnislos an. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Nacken. Da drehte sie sich um zu ihm und begann zu schreien. Ganz plötzlich und unbeherrscht: »Sie sind fort! Alle sind sie fort! Es gibt niemanden mehr in der Stadt! Keinen Einzigen! Irgendetwas ist geschehen. Siehst du es denn nicht? Hörst du es nicht …?«
    Sie brach ab und schämte sich, weil ihr die Tränen so heiß in den Augen standen und nicht zurückzuhalten waren. Aber es waren keine Tränen der Trauer. Auch keine der Erschütterung. Es waren zornige Tränen.
    Da nahm er sie in den Arm, sehr fest, sehr stark. Als müsse er sie beschützen vor dummen Gedanken.
    Und dann hielt er den Atem an und horchte. Und plötzlich vernahm auch er diese schreckliche, absurde, unvorstellbare Stille.
     
    Die factory, die alte, aufgelassene Fabrik mit dem Ballett-Studio im vierten Stock, lag nur noch einen knappen Block weit entfernt, das waren zweihundert Schritte, ihr Frühstücksweg.
    Sie gingen schweigend und tranken ihre Milch. Und immer wieder blieb er stehen und blickte sich um. Schaute die langen, schnurgeraden, verlassenen Straßenschluchten hinunter, die sich irgendwo, nach zwei oder drei Meilen, zwischen den aufgetürmten Betongiganten verloren.
    Seine Unbeschwertheit war dahin, seine fröhliche Ausgelassenheit. Die eigenartige Beklemmung hatte nun auch ihn erfasst. Es war wie in einem Traum. Unerklärlich. Unheimlich. Und fremd.
    »Ich habe getanzt!«, sagte er nur, als sie ihn fragte, warum er das alles nicht selbst und nicht früher bemerkt hatte. »In Gedanken! Alle Figuren …!« Und das hat sie akzeptiert und verstanden.
    Ihre Schritte klangen hohl und polternd auf den Eisenstufen in dem engen, kahlen Treppenhaus. Sie rannten, als würden sie gejagt. Voller Hoffnung, die anderen dort oben zu treffen, die ganze Gruppe. Eine Chance sich mitzuteilen und dieser stummen Einsamkeit endlich zu entfliehen.
    Aber es trieb sie auch der Zweifel. Sie standen in ihrem leeren Trainingssaal, öffneten die schrägen Oberlichter über den mit weißer Farbe blindgestrichenen Drahtglasfenstern.
    Ein säuerlicher Geruch hing im Raum. Schweiß. Und vielleicht auch die Ausdünstung der, Angst. Die Angst, zu versagen. Die Angst vor der Zukunft. Die Angst, dass alle Mühe, alle Schinderei umsonst sein könnte, und dass sich die Träume nicht erfüllten.
    Die Kleider an den Haken, zwischen den vergilbten, mannshohen Spiegeln, hatten sich mit dieser Angst vollgesogen. Der

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