Auf der Suche nach den ältesten Sternen (German Edition)
Sammlung von Cannons gebundenen Notizbüchern mit den Sternklassifikationen sowie die Originalfotoplatten mit den zu klassifizierenden Spektren können auch heute noch am Harvard College-Observatorium in Cambridge, MA, eingesehen werden. Ich habe selbst einige der mit »AJC« markierten Notizbücher in der Hand gehabt. Eines war mit 19. Juli 1915 datiert, und viele Seiten mit »Samstag« gekennzeichnet – nur am Sonntag wurde nicht gearbeitet. Diese Einträge sind in Abbildung 2.4 gezeigt.
Abb. 2.4: Annie Jump Cannons Notizbucheinträge zu Sternklassifikationen am Samstag, 8. November 1913. Ihre Notizbücher können im »Plate stack«-Archiv (fotografisches Plattenarchiv) am Harvard College-Observatorium in Cambridge, MA, USA , eingesehen werden.
Cannon wurde bald weltweit für ihre Klassifikationen von mehr als 200 000 Sternen bekannt. Ihre Kataloge wurden zu Standardwerken, und sie erhielt mehrere wichtige Preise und Auszeichnungen, die ein klares Zeichen setzten, dass Frauen genauso wie Männer wissenschaftliche Spitzenleistungen vollbringen können. Unter anderem erhielt sie 1925 als erste Frau einen Ehrendoktor der Oxford-Universität und 1931 die Henry-Draper-Medaille von der US National Academy of Sciences. Sogar Harvard erkannte ihre Leistungen 1938 als vollwertig an und machte sie 75-jährig zum »William Cranch Bond Astronomer«, was dem akademischen Grad einer Professorin entsprach. Außerdem war schon 1934 der Annie J. Cannon-Award zur Ehrung von Astronominnen von der Amerikanischen Astronomischen Gesellschaft eingeführt worden, den auch Antonia Maury 1943 erhielt. Cannon publizierte verschiedene Ausgaben ihres riesigen Katalogs und seiner Erweiterungen zwischen 1901 und 1937. Ihre Arbeit wurde auch nach ihrem Tod 1941 weitergeführt.
Auf der anderen Seite des Atlantiks war es für Frauen noch deutlich schwerer, in der Astronomie wissenschaftlich arbeiten zu können. Als junge Frau in England bekam Cecilia Payne-Gaposchkin trotz eines beendeten Studiums weder einen wissenschaftlichen Abschluss, noch konnte sie als Astronomin arbeiten. Auf Anraten Harlow Shapleys wanderte sie nach Amerika aus, um dort ebenfalls am Harvard College-Observatorium als zweite Frau überhaupt unter der ermutigenden Leitung von Shapley 1925 ihre Doktorarbeit abzuschließen. Shapley hatte 1921 die Leitung des Harvard College-Observatoriums übernommen und war der Idee von Frauen in der Wissenschaft eher zugeneigt als sein Vorgänger Pickering.
In ihrer Arbeit zeigte Payne-Gaposchkin, dass die Variationen der Absorptionslinien in Sternspektren darauf zurückgehen, welcher Anteil an Gas ionisiert ist. Zudem stellte sich heraus, dass dieser Ionisationsgrad hauptsächlich von der Gastemperatur im Stern abhängig ist. Die Stärke der Spektrallinien war also ein Maß für die Temperatur im Stern und nicht, wie zuvor angenommen, für die Häufigkeiten der entsprechenden Elemente. Diese Erkenntnis kam etwa zeitgleich mit Cannons Spektralklassifizierungen auf. Somit konnten von nun an die Spektraltypen quantitativ auf die verschiedenen Sterntemperaturen zurückgeführt werden. Daraus leitete Payne-Gaposchkin ab, dass Sterne hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium bestehen und nicht, wie bisher angenommen, die gleiche chemische Zusammensetzung wie die der Erde haben. Die Häufigkeiten schwererer Elemente wie Eisen und Silizium erwiesen sich dabei als wesentlich geringer: Sie berechnete, dass die Anzahl der Atome schwererer Elemente in einem Stern ca. eine Million Mal geringer als die der Wasserstoffatome sein müsste.
Was für eine überwältigende Erkenntnis! Heute wissen wir, dass ein Stern tatsächlich zu ~71% aus Wasserstoff, zu ~27% aus Helium und zu weniger als zwei Prozent aus schwereren Elementen besteht. Schon zu meiner Schulzeit war das eines der ersten Details, die ich über Sterne gelernt habe. Der amerikanische Astronom Otto Struve hat später zu Recht Payne-Gaposchkins Dissertation als die »zweifellos brillanteste jemals in der Astronomie geschriebene Doktorarbeit« bezeichnet. Struve war von 1939 bis 1950 Gründungsdirektor des McDonald-Observatoriums in Texas. Dort habe auch ich von 2006 bis 2008 gearbeitet, und dieses Zitat wird dort noch heute weitererzählt.
Mit Payne-Gaposchkins Erfolgen war nun der Weg für weitere Frauen in der Astronomie geschaffen worden. Für ihre Arbeiten erhielt sie als erste Preisträgerin 1934 den Annie J. Cannon-Award. Dieser Preis wird auch heute noch, inzwischen jährlich, an eine
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