Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Odette, wenn man sie in Ruhe ließe, vielleicht eine weitere Lüge vorbringen würde, die einen schwachen Hinweis auf die Wahrheit enthielte; sie sprach; er unterbrach sie nicht, sondern nahm mit sehnsüchtiger und schmerzlicher Andacht die Worte in sich auf, die sie sagte und in denen er (gerade weil sie sie beim Sprechen dahinter zu verstecken suchte) undeutlich wie unter dem heiligen Schleier den Abdruck, die ungenau nachgezeichneten Konturen jener so unendlich kostbaren, aber ach! unauffindbaren Wahrheit verborgen wußte – nämlich was sie um drei Uhr getrieben hatte, als er gekommen war –, über die er stets nur gleich unlesbaren, göttlichen Spuren diese Lügen hören würde und die nur noch in der hehlerischen Erinnerung jenes Wesens existierte, das diese Wahrheit betrachtete, ohne sie schätzen zu können, und das sie ihm bestimmt niemals preisgeben würde. Gewiß hatte er wohl augenblicksweise eine ahnende Vorstellung davon, daß die täglichen Beschäftigungen Odettes nicht aufregend interessant seien und daß die Beziehungen, die sie zu anderen Männern haben mochte, nicht unbedingt von Natur aus und für jedes denkende Wesen tödliche Trauer aushauchen müßten, die mit dem Rausch des Selbstmords geladen sei. Er war sich dann darüber klar, daß dieses Interesse, diese Trauer nur in ihm selbst als eine Art Krankheit bestanden und daß nach deren Heilung die Handlungen Odettes, die Küsse, die sie ausgeteilt haben mochte, wieder so gleichgültig werden würden wie die einer andern Frau. Daß die schmerzlicheNeugier, die Swann jetzt in sich trug, ihre Ursache nur in ihm selbst hatte, war jedoch nicht dazu angetan, es ihm als unsinnig erscheinen zu lassen, daß er diese Neugier wichtig nahm und alles tat, um sie zu befriedigen. Das kam daher, daß Swann jetzt in einem Alter angelangt war, dessen Philosophie – begünstigt durch die der Epoche und auch durch die des Milieus, in dem Swann einen so großen Teil seines Lebens verbracht hatte, jener Coterie um die Fürstin des Laumes, in der es für ausgemacht galt, daß man in dem Maße intelligent ist, wie man an allem zweifelt und nichts als wirklich und unbestreitbar ansieht als den persönlichen Geschmack jedes einzelnen – schon nicht mehr die der Jugend ist, sondern die nüchterne, fast medizinische Philosophie solcher Menschen, die, anstatt das Objekt ihres Strebens aus sich heraus zu verlegen, bemüht sind, aus ihren bereits verflossenen Jahren einen festen Bestand an Gewohnheiten und Leidenschaften zu entnehmen, die sie selbst als charakteristisch und ihrer Person inhärent betrachten können und deren Zufriedenstellung durch die Art von Dasein, das sie führen, sie bewußt im Auge behalten. Swann fand es weise, in seinem Leben dem Leiden, das für ihn darin bestand, nicht zu wissen, was Odette getan hatte, seinen Platz einzuräumen wie dem erneuten Ausbruch eines Ekzems, an dem er litt, sobald das Wetter feucht wurde, und in seinem Budget jeweils einen beträchtlichen flüssigen Betrag vorzusehen, um über den Gebrauch, den Odette von ihren Tagen machte, Auskünfte zu erhalten, ohne die er sich unglücklich fühlen würde, so wie er sich auch immer eine Reserve für die Befriedigung anderer Bedürfnisse gehalten hatte, von denen er mit Sicherheit einen Genuß erwarten konnte, wenigstens solange er noch nicht verliebt gewesen war, wie zum Beispiel seine Sammlungen und eine gute Küche.
Als er Odette adieu sagen und nach Hause zurückkehren wollte, bat sie ihn, noch zu bleiben, hielt ihn sogar lebhaft zurück und nahm ihn beim Arm, als er die Tür öffnen und das Haus verlassen wollte. Er gab aber nicht acht darauf, denn es ist unvermeidlich, daß wir in der Fülle der Gebärden und Reden, der kleinen Zwischenfälle, die eine Unterhaltung mit sich bringt, ohne daß irgend etwas besonders unsere Aufmerksamkeit weckt, nah an solchen Phänomenen vorübergehen, die eine Wahrheit enthalten, nach der unser Argwohn überall forscht, und daß wir uns gerade bei denen aufhalten, hinter denen sich indessen nichts verbirgt. Dauernd wiederholte sie ihm: »Wie schade, daß ich dich, wo du doch nie am Nachmittag kommst, dieses einzige Mal, wo du es doch getan hast, nun nicht gesehen habe.« Er wußte genau, daß sie in ihn nicht verliebt genug war, um so lebhaft zu bedauern, seinen Besuch versäumt zu haben; da sie aber gutmütig war, das Bedürfnis hatte, ihm angenehm zu sein, und oft darunter litt, wenn sie ihm eine Freude verdorben hatte, fand er es ganz
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