Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
ein Polyp, der erst den einen, dann einen zweiten und dritten Fangarm ausstreckt, heftete sich seine Eifersucht zunächst an diese Fünfuhrstunde und dann allmählich auch an andere Zeiten. Doch Swann besaß nicht die Gabe, sich seine Leiden zu erfinden. Sie waren nur die Erinnerung, die Fortsetzung eines Leidens, das ihm von außen her zugefügt war.
Dort wurde es ihm nun aber auch von allen Seiten zuteil. Er wollte Odette von Forcheville entfernen, ein paar Tage mit ihr an die Riviera fahren. Doch er glaubte, daß alle Männer im Hotel ihr nachstellten und sie selbst ihre Gesellschaft suchte. So sah man ausgerechnet ihn, der auf Reisen stets die Bekanntschaft neuer Leute und gesellige Treffpunkte gesucht hatte, menschenscheu die Gesellschaft fliehen, als habe sie ihn tödlich verletzt. Wie hätte er auch nicht zum Misanthropen werden sollen, wo er doch in jedem Mann einen möglichen Liebhaber Odettes sehen mußte? So kam es, daß Swanns Eifersucht – noch mehr als vordem seine beglückte, heitere Neigung für Odette – seinen Charakter verwandelte und von Grund auf auch für die Augen der anderen das äußere Bild seines Wesens veränderte.
Vier Wochen nach jenem Tag, da er Odettes Brief an Forcheville gelesen hatte, ging Swann zu einem Abendessen, das die Verdurins im Bois veranstalteten. In dem Augenblick, als zum Aufbruch gerüstet wurde, bemerkte er, daß Madame Verdurin noch beratend mit mehreren Gästen zusammenstand, und er meinte zu hören, wie der Pianist daran erinnert wurde, daß er am folgenden Tag an einem Ausflug nach Chatou 1 teilnehmen solle; doch er, Swann, war nicht eingeladen.
Die Verdurins hatten nur halblaut und in allgemeinen Wendungen gesprochen, der Maler in seiner Gedankenlosigkeit aber tönte:
»Da wird es keine Beleuchtung brauchen; er soll die Mondscheinsonate im Dunkeln spielen, damit man die Dinge besser ans Licht treten sieht.«
Madame Verdurin, die Swann zwei Schritte von sich entfernt stehen sah, nahm den gewissen Ausdruck an, in dem der Wunsch, den Sprecher zum Schweigen zu bringen, und der, in den Augen des Zuhörenden harmlos auszusehen, in einem vollkommen nichtssagenden Blick sich gegenseitig aufheben, jenen Ausdruck, in dem sich das ohne Wimpernzucken gegebene Zeichen des Einverständnisses unter dem Lächeln der Unschuld verbirgt, der allen Leuten gemeinsam ist, die merken, daß ein Fauxpas unterlaufen ist, und der diesen auf der Stelle – wo nicht denen, die ihn begangen haben, so doch wenigstens dem, der davon betroffen ist – enthüllt. Odette bekam abrupt die Miene einer Verzweifelten, die den Kampf gegen die erdrückenden Schwierigkeiten des Daseins aufgibt, und Swann zählte angstvoll die Minuten, die ihn von dem Augenblick trennten, da er nach Verlassen des Restaurants auf der Heimfahrt mit Odette von ihr Erklärungen verlangen und ihr zureden konnte, am folgenden Tag nicht mit nach Chatou zu gehen oder dafür zu sorgen, daß er eingeladen würde, kurz, in ihrenArmen die Angst, die ihn befiel, würde beschwichtigen können. Endlich ließ man die Wagen vorfahren. Madame Verdurin sagte zu Swann: »Also adieu denn, auf bald, nicht wahr?« wobei sie ihn durch die Liebenswürdigkeit ihres Blicks und ein gezwungenes Lächeln hindern wollte, zu bemerken, daß sie nicht wie sonst immer sagte: »Morgen also in Chatou, und übermorgen wieder bei uns.«
Monsieur und Madame Verdurin ließen Forcheville mit in ihren Wagen steigen, Swanns stand in der Reihe hinter dem ihren, und er wartete nur, daß sie abfahren würden, um Odette in den seinen steigen zu lassen.
»Odette, wir nehmen Sie mit«, sagte Madame Verdurin, »wir haben noch ein Plätzchen für Sie neben Monsieur de Forcheville.«
»Ja, danke«, antwortete Odette.
»Wie denn, ich denke, ich fahre Sie heim«, rief Swann, alle Scheu beiseite lassend, aus, denn der Wagenschlag war geöffnet, die Sekunden gezählt, und er konnte nicht ohne sie nach Hause fahren in dem Zustand, in dem er war.
»Aber Madame Verdurin bat mich doch…«
»Kommen Sie schon, Sie können gut einmal allein nach Hause fahren, wir lassen sie Ihnen so oft«, bemerkte Madame Verdurin.
»Aber ich wollte Madame etwas Wichtiges sagen.«
»Ach was! Dann schreiben Sie es ihr eben …«
»Adieu«, sagte Odette und reichte ihm die Hand.
Er versuchte zu lächeln, sah aber niedergeschmettert aus.
»Hast du bemerkt, was Swann sich jetzt uns gegenüber herausnimmt?« sagte Madame Verdurin zu ihrem Mann, als sie zu Hause waren. »Als wir Odette mit
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