Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
natürlich, daß sie es auch diesmal in dem Bewußtsein tat, ihn darum gebracht zu haben, eine Stunde mit ihr zu verbringen, was für ihn – nicht für sie – ein großes Vergnügen war. Doch war das eine allzu unwichtige Sache, als daß ihre unausgesetzt tiefbetrübte Miene ihm am Ende nicht aufgefallen wäre. Sie erinnerte so noch mehr, als er es gewöhnlich schon fand, an die Frauengestalten des Malers der Primavera . Sie hatte in diesem Augenblick das niedergeschlagene, kummervolle Gesicht, das diesen Frauen das Aussehen gibt, als laste ein Schmerz auf ihnen, der zu schwer für sie ist, auch wenn sie nur einfach das Jesuskind mit einem Granatapfel spielen lassen oder zuschauen, wie Moses Wasser in einen Trog schüttet. 1 Er hatte schon einmal eine so tiefe Traurigkeit bei ihr gesehen, wußte aber nicht mehr recht, wann. Und plötzlicherinnerte er sich: es war, als Odette gelogen hatte, als sie nämlich am Tag nach jenem Abendessen, dem sie unter dem Vorwand einer Unpäßlichkeit, in Wirklichkeit aber, um mit Swann zusammenzusein, ferngeblieben war, mit Madame Verdurin gesprochen hatte. Sicher hätte sie sich als eine noch so gewissenhafte Frau wegen einer so harmlosen Unwahrheit keine Gedanken zu machen brauchen. Die aber, die Odette gewöhnlich vorbrachte, waren weniger harmlos und dazu bestimmt, Enthüllungen vorzubeugen, die ihr bei den einen oder anderen schreckliche Unannehmlichkeiten hätten bereiten können. So hatte sie von vornherein, wenn sie log, in ihrer Angst und dem Gefühl, daß es mit ihrer Verteidigung ziemlich schwach bestellt sei, auch weil sie dem Erfolg mißtraute, große Lust zu weinen, mehr oder weniger aus Müdigkeit, wie Kinder, die nicht geschlafen haben. Außerdem war sie sich bewußt, daß ihre Lüge im allgemeinen eine schwere Kränkung des Mannes bedeutete, für den sie sie erfand und dessen Zorn sie vielleicht über sich ergehen lassen müßte, wenn sie nicht glaubhaft log. Sie fühlte sich dann gleichzeitig demutsvoll und schuldig ihm gegenüber, und wenn es sich nun auch nur um eine unbedeutende konventionelle Lüge handelte, verspürte sie durch eine Gefühls- und Erinnerungsassoziation großes Unbehagen wie bei etwas, was über ihre Kräfte ging, und Reue wie nach wirklicher Schuld.
Welche Lüge mochte sie wohl jetzt für Swann ersinnen, die sie derart bedrückte und ihren Blick so schmerzbewegt, ihre Stimme so wehmütig machte, als ob die Last, die ihnen beiden zugemutet wurde, allzu schwer für sie sei, so daß sie um Gnade flehten? Es kam ihm der Gedanke, daß sie ihm nicht nur die Wahrheit über den Vorfall vom heutigen Nachmittag zu verbergen suchte, sondern etwas Neueres, etwas, wasvielleicht noch nicht einmal eingetreten war, was noch vor ihr lag, was ihm jene Wahrheit aber offenbaren könnte. In diesem Augenblick ging draußen die Schelle. Odette hörte nicht zu sprechen auf, aber ihre Worte kamen wie ein Stöhnen aus ihrem Mund; ihr Bedauern darüber, daß sie Swann am Nachmittag nicht gesehen, ihm nicht geöffnet habe, nahm jetzt den Ton echter Verzweiflung an.
Man hörte, wie die Eingangstür wieder geschlossen wurde, und dann ein Räderrollen, als fahre jemand ab – der Jemand sicherlich, dem Swann nicht begegnen durfte –, nachdem man ihm gesagt hatte, Odette sei nicht zu Hause. Da ergriff Swann bei dem Gedanken, daß er durch sein bloßes Kommen zu einer Stunde, zu der er gewöhnlich nicht erschien, offenbar eine Menge Dinge in Verwirrung gebracht hatte, von denen er nichts wissen sollte, ein Gefühl der Mutlosigkeit, fast der Trostlosigkeit. Da er aber Odette liebte und die Gewohnheit hatte, alle seine Gedanken immer auf sie zu richten, empfand er das Mitleid, das er mit sich selbst hätte haben können, nur für sie und murmelte: »Arme Kleine!« Als er schließlich ging, ergriff sie mehrere Briefe, die auf ihrem Schreibtisch lagen, und fragte ihn, ob er sie zur Post geben könne. Er nahm sie, und als er zu Hause ankam, merkte er, daß er sie noch immer bei sich trug. Er ging damit zur Post, zog sie aus der Tasche und schaute, bevor er sie in den Kasten warf, die Adressen an. Sie waren alle für Lieferanten bestimmt bis auf einen, der an Forcheville gerichtet war. Er hielt ihn in der Hand, dann sagte er sich: Wenn ich sehen könnte, was darin steht, wüßte ich, wie sie ihn anredet, wie sie mit ihm spricht, ob etwas zwischen ihnen besteht. Vielleicht ist es geradezu Taktlosigkeit Odette gegenüber, wenn ich ihn nicht ansehe, denn dies ist die einzige Art,
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