Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
sondern auch ein geistiges Vergnügen. Wenn, seitdem er liebte, die Dinge wieder etwas von dem beglückenden Interesse bekommen hatten, das sie früher für ihn besaßen, aber doch nur da, wo sie ihr Licht von der Erinnerung an Odette her erhielten, so wurde jetzt von seiner Eifersucht eine andere Fähigkeit seiner erkenntnishungrigen Jugend neu belebt, nämlich der leidenschaftliche Drang nach Wahrheit, einer Wahrheit jedoch, die ebenfalls zwischen ihm und seiner Geliebten stand, die ihr Licht von ihr erhielt, einer individuellen Wahrheit also, deren einziges, unerhört kostbares Objekt von schon wieder fast uneigennütziger Schönheit Odettes Handlungen waren: ihre Beziehungen, Pläne, ihre Vergangenheit. Zu jeder anderen Zeit seines Lebens waren Swann die täglichen kleinen Verrichtungen und Taten einer anderen Person völlig unwichtig erschienen; erzählte man ihm darüber irgendwelchen Klatsch, so fand er ihn keineswegs interessant, und während er zuhörte, war er nur mit dem trivialsten Teil seiner Aufmerksamkeit dabei; es war für ihn einer jener Augenblicke, in denen er sich seiner Mittelmäßigkeit am heftigsten bewußt wurde. Doch in dieser seltsamen Phase der Liebe wird das Individuelle derartig bedeutungsvoll, daß die Neugier, die Swann im Hinblick auf die geringfügigsten Beschäftigungen einer Frau in sich erwachen fühlte, genau die gleiche war, die früher geschichtliche Tatsachen in ihm ausgelöst hätten. Und Handlungen, deren er sich bislang geschämt haben würde – spionierend vor einem Fenster stehen und morgen vielleicht, wer weiß, geschickt gleichgültige Menschen zum Reden bringen, die Dienstboten für sich gewinnen, an den Türen horchen –, erschienen ihm nur noch, ebensogut wie das Entziffern von Texten, das Vergleichen von Augenzeugenberichten und die Interpretation von Baudenkmälern, als durchausernstzunehmende Methoden wissenschaftlicher Forschung, die für die Findung der Wahrheit geeignet wären.
Im Begriff, an die Läden zu pochen, hatte er eine Anwandlung von Scham bei dem Gedanken, daß Odette damit wissen würde, daß er mißtrauisch gegen sie geworden, zurückgekommen und auf der Straße vor ihrem Fenster sei. Sie hatte ihm oft gesagt, wie abscheulich sie eifersüchtige Liebhaber finde, die einem nachspionierten. Was er zu tun vorhatte, war recht ungeschickt, sie würde ihn fortan verachten, während sie noch in diesem Augenblick, solange er nicht geklopft hatte, ihn vielleicht liebte, selbst wenn sie ihn betrog. Wie viele Glücksmöglichkeiten geben wir nicht in dieser Weise für das ungeduldige Verlangen nach einem Vergnügen her, das auf der Stelle erreichbar ist! Doch das Verlangen, die Wahrheit zu kennen, blieb stärker und schien ihm edler. Er wußte, daß die Wirklichkeit aller Umstände, die er für sein Leben gern genau rekonstruiert hätte, hinter jenem lichtdurchwobenen Fenster so offen lesbar dalag, als sei es die goldverzierte Einbanddecke eines der kostbaren Manuskripte, gegen deren reichen künstlerischen Schmuck selbst der Gelehrte, der etwas darin nachschlägt, nicht gleichgültig bleiben kann. Er verspürte eine brennende Lust, die erregende Wahrheit aus diesem einzigartigen, vergänglichen, kostbaren Exemplar zu erfahren, das aus einem so warm schimmernden, köstlichen Stoff bestand. Was er den beiden voraushatte – es war ihm überaus wichtig, ihnen gegenüber im Vorteil zu sein –, bestand vielleicht weniger darin, die Wahrheit zu wissen, als vielmehr ihnen zeigen zu können, daß sie ihm nicht verborgen sei. Er stellte sich auf die Zehenspitzen. Er klopfte. Es schien ihn niemand zu hören; er klopfte stärker, das Gespräch hielt inne. Eine Männerstimme, aus deren Klang er zu erraten versuchte, welchem der ihm bekannten Freunde Odettes sie gehören mochte, rief:
»Wer ist da?«
Er war nicht recht sicher, wer es war. Er klopfte noch einmal. Das Fenster ging auf, dann die Läden. Jetzt war es zu spät, noch zurückzuweichen, und da sie doch alles erfahren würde, und um nicht gar zu unglücklich, eifersüchtig und neugierbesessen zu wirken, rief er nur obenhin und scheinbar heiter zurück:
»Lassen Sie sich nicht stören, ich kam nur gerade hier vorbei und sah Licht, da wollte ich mich erkundigen, ob es Ihnen wieder besser gehe.«
Er schaute hin. Vor ihm standen zwei alte Herren am Fenster, der eine hielt eine Lampe in der Hand, und da sah er das Zimmer, das ihm unbekannt war. Da er es gewöhnt war, wenn er sehr spät kam, Odettes Zimmer unter
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