Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
daß diese Sarkasmen ihn selbst zum Gegenstand haben und Odette ihm entfremden könnten.
    Er sah den Pianisten im Begriff, die Mondscheinsonate zu spielen, und Madame Verdurins Miene, wie sie behauptete, Beethovens Musik würde ihr sicher eine Nervenkrise verursachen. »Idiotin! Lügnerin!« rief er aus, »und so was behauptet, die Kunst zu lieben!« Und zu Odette wird sie, nachdem sie geschickt ein paar lobende Worte über Forcheville bei ihr angebracht hat, sagen: »Sie machen sicher neben sich ein bißchen Platz für Monsieur de Forcheville …« »Im Dunkeln! Kupplerin, Hurenmutter!« »Kupplerisch« nannte er jetzt auch die Musik, die die beiden einladen würde, miteinander zu schweigen, zu träumen, sich in die Augen zu blicken und bei der Hand zu nehmen. Er fand jetzt, daß die Strenge gegen die Kunst, wie Plato, Bossuet, die alte französische Erziehung sie proklamierten, auch ihr Gutes hätte. 1
    Alles in allem erschien ihm das Leben, das man bei den Verdurins führte und das er so oft als das »wahre Leben« bezeichnet hatte, jetzt als das schlimmste vonallen und ihr kleiner Kreis als ein unvorstellbar niedriges Milieu. Er ist wirklich, dachte er bei sich, die unterste Stufe auf der sozialen Leiter, der letzte Dantesche Höllenkreis. Kein Zweifel, daß der erhabene Text sich auf die Verdurins bezieht! Man mag über die Menschen der feinen Gesellschaft denken, wie man will, aber auf alle Fälle sind sie doch etwas anderes als dieses Pack; sie beweisen ihre Klugheit damit, daß sie es ablehnen, die Bekanntschaft dieser Kreise zu machen, sich auch nur die Fingerspitzen an solchem Umgang zu beschmutzen! Welche weise Einsicht liegt in dem Noli me tangere 1 des Faubourg Saint-Germain! Seit langem hatte er die Alleen des Bois verlassen, er war jetzt fast bei seinem Haus angelangt, immer noch aber hielt die Trunkenheit des Schmerzes und die leidenschaftliche Unaufrichtigkeit bei ihm an und strömte ihren Rausch in dem verlogenen Tonfall und dem künstlich hochgeschraubten Klang seiner eigenen Stimme immer machtvoller aus; laut perorierte er in der Stille der Nacht: »Die feine Gesellschaft hat ihre Fehler, die niemand besser kennt als ich, aber es gehören ihr doch lauter Leute an, bei denen gewisse Dinge eben unmöglich sind. So manche elegante Frau, die ich kannte, war von Vollkommenheit weit entfernt, doch war bei ihr wenigstens ein Kern an Taktgefühl vorhanden, eine gewisse Loyalität, die sie unter allen Umständen unfähig gemacht hätte, einen Akt der Treulosigkeit zu begehen, und die einen Abgrund zwischen ihr und einer Megäre wie der Verdurin schafft. Verdurin! Was für ein Name! Oh, man kann wirklich sagen, sie sind vollkommen in ihrer Art, schon beinahe wieder schön! Gottlob, es war die höchste Zeit, daß ich aufhörte, mich zu diesem infamen Abschaum der Menschheit herabzulassen.«
    Doch ebenso wie die Tugenden, die er vor kurzem noch den Verdurins nachrühmte, selbst wenn siedarüber verfügten, ohne ihre Begünstigung und Förderung seiner Liebe nicht ausreichend gewesen wären, um bei Swann jenen verzückten Zustand zu erzeugen, in dem er sich gerührt über ihre Großherzigkeit ausließ, die unabhängig von ihrer Betätigung an anderen ihm selbst nur durch Odette bewußt werden konnte – ebenso hätte die Unmoral, die er neuerdings an ihnen entdeckte, wenn sie nicht Odette mit Forcheville und ohne ihn selbst eingeladen hätten, nicht vermocht, seine Entrüstung zu entfesseln und ihn gegen »ihre Infamie« in dieser Weise aufzubringen. Swanns Stimme war hierin durchaus einsichtiger als er selbst, denn sie lehnte es ab, jene Worte voller Abscheu gegen das Verdurinsche Milieu und voller Freude darüber, daß er endlich mit ihnen fertig sei, anders als in einem künstlichen Ton wiederzugeben, so als wären sie eher dazu gewählt, seinen Zorn verrauchen zu lassen als seine Gedanken auszudrücken. Diese waren tatsächlich, während er sich jenen Invektiven überließ, mit etwas ganz anderem beschäftigt, denn als er, vor seinem Haus angekommen, kaum das Eingangstor hinter sich geschlossen hatte, schlug er sich an die Stirn, ließ sich noch einmal öffnen, trat hinaus und rief, diesmal mit seiner natürlichen Stimme: »Ich glaube, jetzt weiß ich ein Mittel, wie ich doch zu dem Diner in Chatou eingeladen werden kann!« Doch das Mittel taugte offenbar nichts, denn Swann wurde nicht geladen; Doktor Cottard, der, zu einem schweren Krankheitsfall in die Provinz gerufen, die Verdurins ein paar Tage nicht

Weitere Kostenlose Bücher