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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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zu uns in den Wagen genommen haben, sah er aus, als wollte er mich fressen. Er benimmt sich wirklichunerhört! Soll er doch gleich sagen, wir hielten ein Bordell. Ich verstehe nicht, daß Odette sich ein derartiges Benehmen gefallen läßt. Er tut ihr gegenüber wirklich so, als gehörte sie ihm. Ich werde Odette meine Meinung sagen, ich hoffe, sie wird mich verstehen.«
    Noch immer wütend fügte sie kurz darauf hinzu:
    »Nein, wirklich, so ein elendiges Mistvieh!« und gebrauchte dabei, ohne es zu wissen und vielleicht dem gleichen dunklen Trieb nach Rechtfertigung gehorchend – wie Françoise in Combray, wenn das Huhn nicht sterben wollte –, die gleichen Worte, die die letzten Zuckungen eines wehrlosen Tieres im Todeskampf dem Bauer entlocken, der dabei ist, es zu erledigen.
    Als Madame Verdurins Wagen abgefahren war und Swanns eigener vorfuhr, fragte der Kutscher bei seinem Anblick, ob Monsieur auch nicht krank oder etwas Arges geschehen sei.
    Swann schickte ihn fort, er wollte gehen; zu Fuß begab er sich durch den Bois nach Hause. Unterwegs sprach er laut mit sich selbst, in dem gleichen etwas affektierten Ton, in dem er bisher die Reize des »kleinen Kreises« analysiert oder die Großherzigkeit der Verdurins in den Himmel gehoben hatte. Doch wie die Reden, das Lächeln, die Küsse Odettes ihm, wenn sie anderen galten, ebenso verhaßt wurden, wie sie ihm früher beglückend erschienen waren, so zeigte sich ihm der Salon der Verdurins, der ihm bislang amüsant vorgekommen war, von wahrem Kunstverständnis getragen und einem hohen geistigen Niveau bestimmt, nun, da Odette dort einen anderen als ihn treffen und unbehindert mit ihrer Liebe bedenken würde, in seiner Lächerlichkeit, seiner Dummheit, seiner Niederträchtigkeit.
    Mit Abscheu stellte er sich den morgigen Abend in Chatou vor. »Überhaupt schon diese Idee, nach Chatou zu gehen! Wie die Krämer nach Ladenschluß!Tatsächlich, erhaben sind sie, diese Leute, vor lauter Spießbürgerlichkeit; die darf es doch in Wirklichkeit gar nicht geben; die müssen aus einem Stück von Labiche 1 stammen!«
    Cottards würden da sein, vielleicht auch Brichot. »Das ist doch wirklich etwas Groteskes, das Leben dieser Leutchen, die unaufhörlich zusammensein müssen und sich verloren fühlen würden, wenn sie sich morgen nicht alle wieder in Chatou träfen!« Ach! Auch der Maler würde anwesend sein, der so gern »Ehen stiftete« und Forcheville sicher einladen würde, mit Odette sein Atelier zu besuchen. Er sah Odette in einer etwas zu eleganten Toilette bei dieser Landpartie, »denn sie ist ja so gewöhnlich, diese arme Kleine, und vor allem so dumm!!!«
    Er hörte im Geist die Witzeleien, die Madame Verdurin nach dem Essen zum besten geben würde, die ihn allerdings, welchen Langweiler sie auch als Zielscheibe haben mochten, bislang amüsiert hatten, weil er Odette darüber lachen, mit ihm, fast in ihm lachen sah. Jetzt spürte er, daß man Odette vielleicht veranlassen würde, über ihn zu lachen. »Was für eine widerliche Art von Belustigung!« sagte er zu sich mit einer Miene so leidenschaftlichen Abscheus, daß er seine Grimasse bis in die Muskeln des gegen den steifen Kragen gepreßten Halses verspürte. »Wie kann nur ein Menschenwesen, dessen Antlitz nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, an diesen ekelerregenden Scherzen auch noch Vergnügen finden? Jede etwas empfindliche Nase würde sich angewidert von solchem Unrat abwenden. Es ist unglaublich zu denken, daß jemand nicht begreifen kann, daß er sich, wenn er sich dazu herabwürdigt, über einen Mitmenschen zu lächeln, dem er eben noch die Hand gedrückt hat, in eine Gosse begibt, aus der er sich beim besten Willen nicht wieder herausarbeiten kann. Ich lebe zuviele tausend Meter über diesen Niederungen, wo in solchem schmutzigen Gewäsch herumgeplanscht und herumgekläfft wird, als daß die Spritzer der Witze dieser Verdurins mich treffen könnten«, rief er, hob den Kopf und warf sich stolz in die Brust. »Gott ist mein Zeuge, daß ich mich redlich bemüht habe, Odette aus diesem Sumpf herauszuziehen und sie in eine edlere und reinere Atmosphäre emporzuheben. Aber die menschliche Geduld hat Grenzen, und meine ist zu Ende«, sagte er sich, als ob die Aufgabe, die er sich stellte, Odette einer Atmosphäre sarkastischer Äußerungen über die lieben Nächsten zu entreißen, schon länger als seit einigen Minuten datiere und als ob er sie nicht erst auf sich genommen habe, seitdem er annehmen mußte,

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