Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
ich dich – ich will nicht sagen, auf der Stelle zu lieben aufhöre, natürlich – aber doch weniger verführerisch finde, wenn ich nämlich einsehen muß, daß du kein selbständiger Mensch bist, daß du tiefer stehst als alle Dinge und dich über nichts erheben kannst? Natürlich hätte ich dich lieber, ohne eine Wichtigkeit daraus zu machen, darum gebeten, auf Une nuit de Cléopâtre (da ich ja dir zuliebe meine Lippen mit diesem unmöglichen Titel besudeln muß) zu verzichten, in der stillen Hoffnung, daß du doch gehen würdest. Da ich aber weiß, daß ich deiner Antwort solche Bedeutung beilegen und so schwerwiegende Konsequenzen daraus ziehen werde, fand ich es loyaler, dich vorher darauf aufmerksam zu machen.«
    Odette gab bereits seit ein paar Sekunden Zeichen der Betroffenheit und Unsicherheit von sich. Wenn ihr auch der eigentliche Sinn dieser Rede entging, so begriff sie doch, daß sie offenbar zu jener Art von Vorhaltungen oder Szenen gehörte, aus deren Vorwürfen und Beschwörungen sie bei ihrer Übung im Umgang mit Männern, ohne auf Einzelheiten achtzugeben, zu schließen gelernt hatte, daß diese sie ihr nicht halten würden, wenn sie nicht verliebt in sie wären, und daß sie selbst, gerade weil sie verliebt in sie waren, nicht nötig hatte, darauf einzugehen, denn sie waren es bestimmt hinterher nur noch mehr. So hätte sie auch SwannsErörterungen mit der größten Ruhe angehört, wenn sie nicht gesehen hätte, wie die Zeit verging, und daß sie, wenn er auch nur kurze Zeit weiterredete, wie sie ihm mit einem zärtlichen, hartnäckigen und verschämten Lächeln zu verstehen gab, »noch die Ouvertüre versäumen würde!«
    Ein andermal sagte er ihr, wodurch sie am ehesten seine Liebe verlieren werde, sei, daß sie nicht aufhören könne zu lügen. »Selbst ganz einfach vom Standpunkt der Koketterie aus«, sagte er zu ihr, »mußt du doch verstehen, wie sehr du an Verführungskraft verlierst, wenn du dich so weit erniedrigst, dich auf Lügereien einzulassen? Wieviel könntest du durch ein offenes Eingeständnis wieder gutmachen! Wirklich, du bist doch weniger gescheit, als ich immer glaubte!« Aber wie nachdrücklich Swann ihr auch alle Gründe auseinandersetzte, weshalb sie nicht lügen sollte, es war vergebens; sie hätten bei Odette vielleicht ein System des Lügens zunichte machen können, doch das besaß sie nicht; sie begnügte sich damit, in jedem einzelnen Falle, wo sie wünschte, daß Swann über irgend etwas, was sie getan hatte, in Unkenntnis blieb, es ihm nicht zu sagen. So war die Lüge für sie eine den jeweiligen Umständen gemäße Behelfsmaßnahme; und was allein darüber entscheiden konnte, ob sie sich ihrer bedienen solle oder die Wahrheit gestehen, war ein ebenfalls den Umständen entsprechender Grund, nämlich die mehr oder weniger große Gefahr, Swann könnte entdecken, daß sie nicht die Wahrheit sprach.
    Was ihren Körper anging, so machte sie eine schlechte Phase durch: sie wurde dicker, und der schmerzvolle Gesichtsausdruck, die staunenden, träumerischen Blicke, die früher ihren Reiz ausgemacht hatten, schienen mit ihrer ersten Jugend dahingeschwunden zu sein. Auf diese Weise wurde sie Swann gerade in demZeitpunkt so besonders teuer, als er sie gewissermaßen weniger anziehend fand. Er schaute sie lange an, um den Zauber wiederzufinden, den sie früher für ihn hatte, doch er entdeckte ihn nicht. Es genügte ihm aber zu wissen, daß in dieser neuen Verkleidung wie in einer Schmetterlingspuppe doch immer die gleiche Odette lebte, der gleiche stets sich entziehende, ungreifbare, verstockte Wille, um mit der gleichen Leidenschaft diesen fassen zu wollen. Dann betrachtete er Photographien, die vor zwei Jahren aufgenommen waren, und erinnerte sich, wie zauberhaft sie gewesen war. Das tröstete ihn dann ein wenig darüber, daß er sich ihretwegen soviel Kummer und Sorge machte.
    Wenn die Verdurins sie nach Saint-Germain, nach Chatou oder Meulan mitnahmen, schlugen sie in der schönen Jahreszeit oft an Ort und Stelle vor, dort zu übernachten und erst am nächsten Tag wieder nach Hause zu fahren. Madame Verdurin suchte die Bedenken des Pianisten zu beschwichtigen, dessen Tante in Paris zurückgeblieben war.
    »Sie wird entzückt sein, daß sie Sie einmal los ist für einen Tag. Wie soll sie sich denn beunruhigen, wo sie doch weiß, daß Sie mit uns hier sind; im übrigen bin ich bereit, alles auf meine Kappe zu nehmen.«
    Wenn es ihr aber nicht gelang, brach Monsieur Verdurin

Weitere Kostenlose Bücher