Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
ihm schon bedeuten, selbst bevor er Odette erblickte und selbst, wenn er sie überhaupt nicht sah, den Fuß auf jenen Boden zu setzen, auf dem er, wenn ihm auch nicht genau die Stelle bekannt war, an der sie sich zu dieser oder jener Zeit gerade befinden mochte, doch überall die Möglichkeit ihres plötzlichen Erscheinens in erregender Weise würde gegenwärtig fühlen: auf dem Hofe des Schlosses, das schön für ihn geworden war, weil er ihretwegen es nunmehr besichtigen ging, auf allen Straßen der Stadt, die ihm daraufhin auf einmal romantisch vorkam, auf jedem Waldweg, den ein warm und zärtlich getönter Sonnenuntergang mit rosigem Schimmer übergoß; – zahllose, immer wieder andere Zufluchtsstätten, in denen sein glückliches, schweifendes und vervielfachtes Herz in der veränderlichen Allgegenwart seiner Hoffnungen Schutz suchte. »Vor allem«, würde er zu Monsieur de Forestelle sagen, »wollen wir aufpassen, daß wir nicht Odette und den Verdurins begegnen; ich habe erfahren, daß sie ausgerechnet heute in Pierrefonds sind. Man sieht sich wirklich genug in Paris, es wäre die Mühe nicht wert hinauszufahren, wenn man hier keinen Schritt machen könnte, ohne einander zu treffen.« Und sein Freund würde nicht verstehen, weshalb er, nachdem er nun einmal da war, zwanzigmal seine Pläne änderte und die Speisesäle sämtlicher Hotels von Compiègne inspizierte, ohne sich zu entschließen, in einem davon sich niederzulassen, obwohl von den Verdurins keine Spur zu erblicken war, so daß es schließlich aussehen würde, als suche er, was er zu meiden behauptete und wovor ertatsächlich wieder flüchten würde, sobald er es gefunden hätte, denn wäre er der kleinen Gruppe begegnet, so hätte er sich geflissentlich von ihr ferngehalten, völlig zufrieden damit, daß er Odette und sie ihn gesehen hätte, zumal in einer Situation, in der er sie gar nicht weiter beachtete. Doch nein, sie würde sicher erraten, daß er nur ihretwegen kam. Und als Monsieur de Forestelle ihn schließlich abholen kam, sagte er zu ihm: »Ach nein, ich kann heute nicht nach Pierrefonds fahren, Odette ist nämlich gerade dort.« Dabei war Swann trotz allem glücklich in dem Bewußtsein, daß es, wenn von allen Sterblichen allein er nicht das Recht besaß, an diesem Tag in Pierrefonds zu sein, seinen Grund darin hatte, daß er tatsächlich für Odette von allen anderen Menschen verschieden, nämlich ihr Liebhaber war und diese seine Ausnahmestellung gegenüber dem allgemeinen Recht auf Bewegungsfreiheit nur eine der Formen dieser Versklavtheit, dieser Liebe, an der ihm mehr als an allem lag. Ganz entschieden war es besser, nicht einen Bruch mit Odette zu riskieren, vielmehr in aller Geduld auf ihre Rückkehr zu warten. Er verbrachte seine Tage über einer Karte des Walds von Compiègne, als sei sie die »Carte du Tendre« 1 , und umgab sich mit Photographien von Schloß Pierrefonds. Sobald der Tag gekommen war, an dem sie möglicherweise wieder zurückfuhr, schlug er erneut den Fahrplan auf und rechnete sich aus, welchen Zug sie nehmen könnte, und wenn sie ihn etwa verpaßte, welche anderen ihr noch blieben. Er verließ das Haus nicht aus Furcht, eine Depesche zu versäumen, und wagte nicht zu Bett zu gehen für den Fall, daß sie mit dem letzten Zug zurückkäme und ihm die Überraschung bereiten wollte, ihn mitten in der Nacht gleich noch aufzusuchen. Gerade im Augenblick hörte er es an der Außentür schellen; es kam ihm vor, als werde lange nicht aufgemacht, er wollte schon den Conciergewekken und stellte sich ans Fenster, um Odette zu rufen, falls sie es wirklich wäre, denn trotz aller Anweisungen, die er unten im Haus mindestens zehnmal persönlich erteilt hatte, war es immer noch möglich, daß jemand behauptete, Monsieur sei gar nicht da. Es war ein Bediensteter, der nach Hause kam. Swann lauschte auf das unaufhörliche rasche Vorüberrollen der Wagen, auf das er sonst überhaupt nicht achtgegeben hatte. Er hörte jeden einzelnen von ferne kommen, sich nähern, an seiner Tür vorüberfahren, ohne daß er hielt, und eine Botschaft weitertragen, die nicht für ihn bestimmt war. Er wartete die ganze Nacht, und zwar völlig vergebens, denn die Verdurins hatten ihre Rückkehr vorverlegt, Odette war seit mittag schon in Paris; sie war nicht auf den Gedanken gekommen, ihn zu benachrichtigen; da sie nicht wußte, was sie anfangen sollte, hatte sie den Abend allein im Theater verbracht, war früh nach Hause gegangen und schlief seit
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