Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
erschreckende und unbeschreiblich anziehende Sache zu überdecken, an die er unaufhörlich denken mußte, ohne sie sich richtig vorstellen zu können, nämlich eine Stunde des wahren Lebens von Odette, des Lebens von Odette, wenn er nicht anwesend war), mit Theaterrequisiten und Früchten aus Papiermaché, sondern vielleicht ganz ernstlich eine Stunde aus diesem wahren Leben selbst; als würde sie, wenn er nicht dagewesen wäre, Forcheville den gleichen Sessel hingeschoben und ihm nicht ein unbekanntes Getränk, sondern ganz die gleiche Orangeade eingeschenkt haben; als sei die von Odette bewohnte Welt nicht jene andere, erschreckende und übernatürliche Welt, in der er sie im Geiste unaufhörlich sah und die vielleicht nur in seiner Einbildung existierte, sondern die wirkliche Welt, und nicht mit einer ganz besonderen Art von Trauer versetzt, sondern ein Bereich, in dem der Tisch, an dem er schreiben, und das Getränk, von dem er kosten konnte, einfach enthalten waren; dazu alle diese Gegenstände, die er mit ebenso großer Neugier wie Bewunderung und Dankbarkeit betrachtete, denn wenn sie dadurch, daß sie seine Träume aufgesogen hatten, ihn von ihnen befreiten, so wurden sie selbst dadurch reicher, zeigten ihm ihre greifbare Wirklichkeit, beschäftigten seinen Geist und wurden plastischer für seinen Blick, während sie seinem Herzen Beruhigung verschafften.Ach! Wenn das Schicksal ihm gestattet hätte, ein und dieselbe Wohnung mit Odette zu haben, bei ihr zu Hause zu sein, und wenn er die Dienstboten nach dem Menü für das Mittagessen befragte, zu wissen, daß er den Speisezettel Odettes erfuhr, oder sobald Odette am Vormittag in der Avenue du Bois de Boulogne spazierengehen wollte, als guter Ehemann, auch wenn er keine Lust hätte, sie begleiten und ihren Mantel tragen zu müssen, sofern es ihr zu warm würde, und wenn sie nach dem Abendesssen im Schlafrock zu Hause bleiben wollte, gezwungen zu sein, bei ihr zu bleiben und zu tun, was sie wünschte, wie hätten dann alle die kleinen Nichtigkeiten in Swanns Leben, die ihm jetzt traurig schienen, ganz im Gegenteil, weil sie gleichzeitig einen Teil von Odettes Leben bildeten, selbst die vertrautesten – wie diese Lampe, die Orangeade, der Sessel, an die sich soviel Träume geheftet und die soviel Verlangen verwirklichten –, eine Art von überquellender Süße und geheimnisvoller Dichte in sich aufgenommen.
Gleichwohl ahnte er, daß das, was er ersehnte, diese Ruhe, der Frieden, für seine Liebe keine günstige Atmosphäre bedeutet hätten. Wenn Odette aufhören würde, für ihn eine stets abwesende, ersehnte, imaginäre Erscheinung zu sein, wenn das Gefühl, das er für sie hegte, nicht mehr dieselbe geheimisvolle Unruhe wäre, die das Thema der Sonate in ihm auslöste, sondern Zuneigung und Dankbarkeit, wenn sich zwischen ihnen normale Beziehungen herausbildeten, die seinem Wahn und seiner Trauer ein Ende bereiteten, dann würden ihm zweifellos Odettes Handlungen in sich selbst ganz uninteressant erscheinen – wie er schon öfter den Verdacht gehabt hatte, zum Beispiel an jenem Tag, als er durch das Briefkuvert hindurch die an Forcheville gerichteten Zeilen gelesen hatte. Wenn er sein Leiden so sachlich beobachtete, als habe er es sich zu Studienzwecken selber durchImpfung beigebracht, mußte er sich sagen, daß er, einmal geheilt, alles, was Odette beträfe, als gleichgültig ansehen würde. Doch aus dem Grund seines krankhaften Zustands heraus fürchtete er wie den Tod eine solche Heilung, die in der Tat das Ende von allem bedeutet hätte, was er im Augenblick war.
Nach diesen ruhigen Abenden war Swanns Argwohn beschwichtigt; er pries Odette, und am folgenden Morgen schickte er ihr die schönsten Juwelen zu, weil ihre Güte am Abend zuvor entweder seine Dankbarkeit oder den Wunsch, sie immer neu zu erleben, oder einen Paroxysmus der Liebe in ihm bewirkt hatte, der sich verausgaben mußte.
Zu anderen Zeiten aber überfiel der Schmerz ihn von neuem, er stellte sich vor, Odette sei die Geliebte von Forcheville und sie habe damals im Bois – am Vorabend des Festes in Chatou, zu dem er nicht eingeladen war, als beide im Landauer 1 der Verdurins saßen und mitansahen, wie er mit jener verzweifelten Miene, die sogar seinem Kutscher aufgefallen war, Odette vergeblich bat, mit ihm heimzufahren, und wie er dann seinen Heimweg allein und geschlagen antrat – gewiß mit demselben blitzenden, boshaften, niederträchtigen und heimtückischen Blick wie an jenem
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