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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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langem.
    Sie hatte nämlich nicht einmal an ihn gedacht. Solche Augenblicke aber, in denen Odette sogar die Existenz Swanns vergaß, waren nützlicher für sie, erfüllten besser den Zweck, Swann fester an sie zu binden, als alle ihre Koketterie. Denn auf diese Weise lebte er ständig in jener schmerzlichen Unruhe, die schon mächtig genug gewesen war, seine Liebe zur Entfaltung zu bringen an jenem Abend, als er Odette nicht bei den Verdurins angetroffen und den ganzen Abend lang gesucht hatte. Und er hatte nicht, wie ich in meiner Kindheit in Combray, Stunden des Glücks, in denen man die Leiden vergißt, die erst der Abend wieder bringen wird. Seinen Tag verlebte er ohne Odette; in manchen Augenblicken sagte er sich dann, daß es ebenso unvernünftig sei, eine derart hübsche Frau in Paris allein ausgehen zu lassen, wie wenn man ein Juwelenkästchen mitten auf die Straße stellt. Dann war er voller Entrüstung gegen alleVorübergehenden, als seien sie sämtlich Diebe. Doch ihr gestaltloses Kollektivgesicht entzog sich seiner Phantasie und bot seiner Eifersucht keine Nahrung. Es ermüdete sein Denken so sehr, daß er sich mit der Hand über die Augen fuhr und ausrief: »In Gottes Namen«, wie diejenigen, die, nachdem sie leidenschaftlich das Problem der Realität der Außenwelt oder der Unsterblichkeit der Seele zu erfassen versucht haben, ihrem erschöpften Geist die Entspannung des schlichten Glaubens gestatten. Doch immer war der Gedanke an die Abwesende mit den alltäglichsten Vorgängen von Swanns Dasein – seinem Frühstück, dem Empfang der Post, jedem Ausgang, dem Schlafengehen – gerade durch den Kummer, den es ihm bereitete, sie ohne sie zu vollziehen, so unauflöslich verknüpft wie in der Kirche von Brou die Initialen Philiberts des Schönen mit denen der Margarete von Österreich, die sie aus Trauer um ihn überall miteinander verflocht. 1 An manchen Tagen blieb er nicht zu Hause, sondern speiste zu Mittag in einem nahen Restaurant, dessen gute Küche er früher geschätzt hatte, in das er aber jetzt nur noch aufgrund einer jener gleichzeitig mystischen und albernen Überlegungen ging, die man »romantisch« nennt, trug dieses Restaurant (das heute noch existiert) doch denselben Namen wie die Straße, in der Odette wohnte: Lapérouse. 2 anchmal kam sie nach einer kurzen Abwesenheit erst nach Tagen auf den Gedanken, sie könne ihn wissen lassen, daß sie wieder in Paris sei. Dann sagte sie ihm ganz einfach, ohne wie früher die Vorsicht zu gebrauchen, sich für alle Fälle mit einem Zipfelchen Wahrheit zu bedecken, sie sei gerade eben erst mit dem Morgenzug angekommen. Diese Worte waren eine Lüge; wenigstens für Odette waren sie eine Lüge, waren haltlos, denn sie besaßen nicht wie wahre Worte einen Halt in der Erinnerung ihrer Ankunft auf dem Bahnhof; sie konntesich sogar, was sie damit sagte, in dem Augenblick, da sie es behauptete, nicht einmal vorstellen, denn was sie wirklich im Moment der Ankunft des Zuges getan hatte, rief ein ganz anderes Bild in ihr wach. In Swanns Geist aber begegneten diese Worte überhaupt keinem Widerstand, sondern sie setzten sich darin unbeweglich fest als eine so unbezweifelbare Tatsache, daß er, hätte ein Freund ihm gesagt, er sei mit dem gleichen Zug angekommen und habe Odette nicht gesehen, überzeugt gewesen wäre, daß der Freund sich in Tag und Stunde geirrt hatte, da seine Aussage sich nicht mit den Worten Odettes in Einklang bringen ließ. Diese Worte wären ihm nur als Lügen erschienen, wenn er von Anfang an den Verdacht gehabt hätte, sie seien es. Um zu glauben, sie lüge, war es für ihn eine notwendige Voraussetzung, zuvor Verdacht geschöpft zu haben. Dies war übrigens auch eine hinreichende Voraussetzung. Dann schien ihm alles, was Odette sagte, verdächtig. Nannte sie einen Namen, so handelte es sich gewiß um den eines ihrer Liebhabers; hatte diese Vermutung einmal feste Gestalt angenommen, so plagte er sich Wochen damit; einmal wandte er sich sogar an eine Detektei, um die Adresse eines Unbekannten ausfindig zu machen und zu erfahren, was er dann und dann getan habe, und hatte die Idee, daß er nur aufatmen könne, sofern der Betreffende sich auf Reisen befände; schließlich erhielt er die Mitteilung, es handle sich um einen vor zwanzig Jahren verstorbenen Onkel Odettes.
    Obwohl sie ihm im allgemeinen mit der Behauptung, es würde Gerede geben, nicht gestattete, sich irgendwo in der Öffentlichkeit mit ihr zu zeigen, kam es doch vor, daß er

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