Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
auszuüben.
Doch beim Aussprechen des Namens Guermantes bemerkte ich, wie sich in den blauen Augen unseres Freundes eine kleine dunkle Einkerbung bildete, als würden sie von einer unsichtbaren Spitze geritzt, während die übrige Iris damit reagierte, daß sie Ströme von reinem Azur entsandte. Die Ringe um seine Augen wurden dunkler, seine Lider senkten sich. Am schnellsten erholte sich sein eben noch von einer bitteren Falte gezeichneter Mund, der schon wieder lächelte, während der Blick noch schmerzvoll blieb wie der eines schönen Märtyrers mit von Pfeilen durchbohrtem Leib: »Nein, ich kenne sie nicht«, sagte er, anstatt jedoch eine so wenig bemerkenswerte Tatsache in dem natürlichen und geläufigen Ton vorzubringen, den sie verdiente, sprach er sie unter Betonung jeder einzelnen Silbe, mit einer Art von Verbeugung und einem wie grüßenden Neigen des Kopfes aus, mit der Eindringlichkeit gleichzeitig, mit der man, um sie glaubhafter zu machen, eine unwahrscheinlich klingende Behauptung aufstellt – als wenn die Tatsache, daß er die Guermantes nicht kenne, nur das Ergebnis eines ganz unerklärlichen Zufalls sei –, und mit der Emphase, die jemand an den Tag legt, der etwas ihm Peinliches nicht länger verschweigen kann und sich deshalb lieber laut dazu bekennt, um bei den anderen den Eindruck zu erwecken, daß dieses Eingeständnis ihm keine Verlegenheit bereite, sondern spielend, ungezwungen und spontan erfolge, so als wäre die Situation selbst – nämlich das Fehlen jeglicher Beziehung zu den Guermantes – nicht etwas, womit er sich abzufinden hätte, sondern wegen einer Familientradition, eines moralischen Prinzips oder aufgrund einesmystischen Gelübdes, das ihm ganz ausdrücklich und namentlich den Umgang mit den Guermantes untersage, willentlich von ihm herbeigeführt. »Nein«, wiederholte er, indem er nunmehr in Worten seinen Tonfall bekräftigte, »ich kenne sie nicht, ich wollte nie, ich habe immer darauf gehalten, meine volle Unabhängigkeit zu bewahren; im Grunde bin ich eine Jakobinernatur, das wissen Sie ja. Ich bin oft gedrängt worden, die Leute haben mir gesagt, ich machte einen Fehler damit, daß ich nicht nach Guermantes ginge, ich würde dadurch ungehobelt wirken, wie ein altes Rauhbein. Doch ist das ein Ruf, der mich nicht schrecken kann, denn er beruht auf Wahrheit! Im Grunde liebe ich auf der Welt nur ein paar Kirchen, zwei oder drei Bücher, nur wenig mehr Bilder und den Mondschein, wenn der kühle Anhauch Ihrer Jugend den Duft der Blumenbeete zu mir trägt, die meine alten Augen nicht mehr zu erkennen vermögen.« Ich verstand nicht recht, wieso es nötig war, um nicht zu Leuten zu gehen, die man nicht kennt, auf seine Unabhängigkeit zu pochen, und inwiefern man dadurch wie ein Rauhbein wirkte. Eines aber war mir klar, nämlich daß Legrandin keineswegs bei der Wahrheit blieb mit seiner Behauptung, er mache sich nur etwas aus Kirchen, dem Mondschein und der Jugend; er machte sich sehr viel aus den Bewohnern der Schlösser und hegte in ihrer Gegenwart so große Furcht, ihnen zu mißfallen, daß er sich scheute, ihnen offen zu zeigen, daß er mit bürgerlichen Leuten wie Söhnen von Notaren oder Wechselmaklern befreundet war, und es vorzog, wenn die Entdeckung der Wahrheit schon einmal unvermeidlich war, daß sie dann in seiner Abwesenheit, fern von ihm, »in contumaciam« erfolge; er war ein Snob. Natürlich drückte er niemals etwas Derartiges in der Sprache aus, die meine Eltern und ich so sehr an ihm bewunderten. Und wenn ich fragte: »Kennen Sie dieGuermantes?«, gab der Konversationskünstler in Legrandin zur Antwort: »Nein, und ich habe auch niemals Wert darauf gelegt.« Unglücklicherweise aber antwortete er so nur als zweiter, denn ein anderer Legrandin, den er sorgfältig in seinem Innern verbarg und niemals vorzeigte, weil dieser Legrandin über den unseren und über seinen Snobismus allerlei kompromittierende Geschichten wußte, ein anderer Legrandin, sage ich, hatte zuvor bereits seine Antwort gegeben durch den verwundeten Blick, die verbissene Linie des Mundes, den übertriebenen Ernst im Tone seiner Erklärung, durch die tausend Pfeile, von denen unser Legrandin sich einen Augenblick gespickt und entkräftet gefühlt hatte, ein heiliger Sebastian des Snobismus: Ach! Wie tun Sie mir weh! Nein, ich kenne die Guermantes nicht, rühren Sie nicht an den großen Schmerz meines Lebens. Und verfügte dieser unerträgliche, unüberhörbare Legrandin nicht über die
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