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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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die ganz unvergleichlich sind und oft Stunden brauchen, um endlich zu verwelken. Andere entblättern sich auf der Stelle, und es ist dann fast noch schöner anzusehen, wenn der ganzeHimmel weithin von schwefel- und rosenfarbenen Blüten überstreut ist. In jener sogenannten Opalbucht sind die goldenen Sandstrände um so lieblicher, als sie blonden Andromeden gleich an den schrecklichen Felsen der angrenzenden Küste gefesselt sind, an jenes düstere Gestade, das von so vielen Schiffbrüchen Kunde gibt, wo jeden Winter zahllose Barken in Seenot untergehen. Balbec! das älteste geologische Knochengerüst unseres Bodens, das wahre Ar-mor, das Meer, das Ende der Erde, jene unheildräuende Region, die Anatole France – ein Magier, den unser junger Freund hier lesen sollte – so trefflich beschrieben hat mit ihren ewigen Nebeln, das wahre Land der Kimmerier in der Odyssee . 1 Wie wundervoll ist es, gerade von Balbec aus, wo jetzt schon Hotels entstehen und einen antiken, zaubergetränkten Boden überdecken, dem sie seinen Charakter dennoch nicht nehmen können, unmittelbar in jene so nahen, urtümlich schönen Regionen vorzustoßen.«
    »Ach, sagen Sie, kennen Sie jemand in Balbec?« fragte mein Vater. »Der junge Mann hier soll nämlich gerade mit seiner Großmutter für zwei Monate hingehen, vielleicht auch mit meiner Frau.« Legrandin, der mit dieser Frage in einem Augenblick überrumpelt wurde, als er meinen Vater gerade fest anschaute, hatte so schnell nicht wegsehen können; statt dessen nun ließ er seine Augen von Sekunde zu Sekunde intensiver – und wehmütig lächelnd dabei – mit einer Miene der Freundschaft und des Freimuts und so, als fürchte er nicht, seinem Blick zu begegnen, auf meinem Vater ruhen, bis er schließlich, als könne er durch ihn hindurchsehen, hinter ihm eine lebhaft gefärbte Wolke zu entdecken schien, die ihm ein imaginäres Alibi schuf und ihm erlaubte, so zu tun, als habe er in jenem Augenblick an etwas anderes gedacht und die Frage, ob er jemand in Balbec kenne, überhaupt nicht gehört. Gewöhnlich erreicht man miteinem solchen Blick, daß der andere fragt: »Woran denken Sie denn?« Neugierig, ärgerlich und zur Grausamkeit geneigt, ließ mein Vater jedoch nicht locker.
    »Haben Sie Freunde dort in der Gegend, da Sie doch Balbec so gut kennen?«
    In einer letzten verzweifelten Bemühung erlangte Legrandins Blick sein Höchstmaß an Zärtlichkeit, Traumverlorenheit, Aufrichtigkeit und Zerstreutheit, aber offenbar sah er ein, daß er der Antwort nicht ausweichen könne, und so sagte er denn:
    »Ich habe Freunde überall, wo es wehrhafte Gruppen von Bäumen gibt, die verstümmelt sind, doch nicht den Kampf aufgeben, und die sich zusammenscharen, um in rührendem Eigensinn einen dräuenden Himmel anzuflehen, der kein Erbarmen mit ihnen kennt.«
    »Das meinte ich eigentlich nicht«, unterbrach ihn mein Vater, eigensinnig wie die Bäume und wie der Himmel erbarmungslos. »Ich fragte für den Fall, daß meiner Schwiegermutter irgend etwas zustößt, damit sie sich dann nicht völlig verlassen vorkommt, ob Sie dort Leute kennen?«
    »Dort wie überall kenne ich alle und niemand«, antwortete Legrandin, der nicht so rasch die Waffen streckte; »die Dinge kenne ich gut, aber die Menschen nur wenig. Doch scheinen die Dinge dort viel eher Personen zu sein, und zwar erlesene Personen von überaus zarter Wesenssubstanz und gleichsam vom Leben enttäuscht. Manchmal ist es ein Schloß auf einsamer Klippe, am Rande eines Weges, an dem es stehengeblieben ist, um seinen Schmerz vor dem noch rosig durchhauchten Abend auszubreiten, in dem schon der goldene Mond aufzieht, dessen flammende Farben die Fischerbarken, die ihre Bahnen durch das schillernde Wasser ziehen, an ihren Masten hissen; manchmal ist es ein schlichtes einsames Haus, das, beinahe häßlich,etwas Scheues und Romantisches hat und irgendein unvergängliches Geheimnis von Glück und von Entsagung den Blicken der Menschen verbirgt. Dies Land ohne Wahrheit«, fügte er mit machiavellistischem Feinsinn hinzu, »dies Land der reinen Fiktion ist eine schlechte Lektüre für ein Kind, und ganz gewiß würde ich es nicht für unseren jungen Freund hier auswählen oder empfehlen, der schon an sich mit seinem vorbelasteten Herzen zum Trübsinn zu neigen scheint. Die Atmosphäre von Liebesgeständnis und vergeblicher Klage dort mag für einen illusionslosen alten Mann passen, wie ich einer bin, doch ist sie ganz unzuträglich für eine noch nicht

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