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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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nette Ausdrucksweise jenes zweiten, so war er doch viel schlagfertiger, bestand aus lauter »Reflexen«, wie man sagt, und wenn der Konversationskünstler in Legrandin ihm Schweigen gebieten wollte, hatte der andere längst gesprochen, und es nützte unserem Freund nichts, wenn er nachträglich verzweifelt war über den schlechten Eindruck, den die Enthüllungen seines alter ego machten; er konnte nur noch versuchen, ihn etwas zu verwischen.
    Sicherlich bedeutet das nicht, daß Legrandin nicht etwa aufrichtig war, wenn er gegen die Snobs zu Felde zog. Er konnte nicht wissen, jedenfalls nicht aus sich selbst, daß er selber einer war, da wir ja immer nur die Leidenschaften der anderen kennen und alles, was wir schließlich über die unseren in Erfahrung bringen, uns nur durch jene vermittelt wird. Auf uns selbst wirken sie nur sozusagen aus zweiter Hand, durch die Phantasie, die die unmittelbaren Beweggründe durch dazwischengeschobene, schicklichere Gründe ersetzt. Niemalsempfahl sein Snobismus Legrandin, einer Herzogin häufig seine Aufwartung zu machen. Er beauftragte vielmehr Legrandins Phantasie, ihm diese Herzogin als eine Person vor Augen zu stellen, die mit besonderen Reizen ausgezeichnet war. Legrandin näherte sich dieser Herzogin dann in der Meinung, er erliege der Anziehungskraft ihres Geistes und ihrer Tugend, die für die niederträchtigen Snobs etwas Unbekanntes ist. Nur die anderen wußten, daß er selbst einer war; denn in ihrer Unfähigkeit, die vermittelnde Tätigkeit seiner Phantasie zu begreifen, sahen sie Legrandins mondäne Betriebsamkeit und ihre erste Ursache in direktem Zusammenhang.
    Bei uns zu Hause machte sich jetzt niemand mehr über Legrandin Illusionen, und unsere Beziehungen zu ihm lockerten sich sehr. Mama amüsierte sich jedesmal köstlich, wenn sie Legrandin in flagranti bei der Sünde ertappte, die er nicht eingestand und auch weiterhin als die Sünde bezeichnete, für die es keine Vergebung gibt: dem Snobismus. Meinem Vater fiel es nicht so leicht, Legrandins Nichtbeachtung mit so viel Überlegenheit und Heiterkeit hinzunehmen, und als meine Eltern eines Sommers einmal daran dachten, mich die großen Ferien mit meiner Großmutter in Balbec verbringen zu lassen, meinte er: »Ich muß unbedingt Legrandin erzählen, daß ihr nach Balbec geht, um zu sehen, ob er sich anerbieten wird, euch mit seiner Schwester zusammenzubringen. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht mehr, daß er uns erzählt hat, sie wohne nur zwei Kilometer von dort entfernt.« Meine Großmutter, die der Ansicht war, man müsse an der See von morgens bis abends im Freien sein, um die Salzluft einzuatmen, und mache dort am besten keine Bekanntschaften, weil Besuche und gemeinsame Spaziergänge jeweils auf Kosten der Meeresluft gingen, war jedoch dafür, daß man Legrandin gegenüberunseren Plan nicht erwähne; sie malte sich schon im Geiste aus, wie seine Schwester, Madame de Cambremer, gerade in dem Augenblick vor dem Hotel erscheinen würde, wo wir im Begriff ständen, zum Fischfang aufzubrechen, und uns zwingen würde, im Zimmer zu bleiben, um sie zu empfangen. Mama aber lachte über ihre Befürchtungen, denn sie dachte im stillen, die Gefahr sei gering, da Legrandin es nicht so eilig haben werde, uns mit seiner Schwester in Kontakt zu bringen. Nun aber ergab es sich, daß, ganz ohne eine Bemerkung unsererseits über Balbec, Legrandin selbst, ahnungslos, daß wir jemals die Absicht haben könnten, uns dorthin zu begeben, eines Abends in die Falle ging, als wir ihm am Ufer der Vivonne begegneten.
    »In diesen Wolkenbildungen hier gibt es wundervolle violette und blaue Töne, nicht wahr, mein lieber Freund«, sagte er zu meinem Vater, »ein Blau zumal, das eher blütenhaft als luftgeboren wirkt, ein Zinerarienblau, das am Himmel überrascht. Auch die kleine rosa Wolke da hat doch einen Ton von Nelken oder Hortensien. Sonst habe ich eigentlich nur an der Kanalküste, zwischen der Normandie und der Bretagne, solche ergiebigen Beobachtungen über diese Art von Pflanzenreich innerhalb der Atmosphäre machen können. In der Nähe von Balbec, in jenen wilden Gegenden, liegt eine kleine Bucht von einer zauberhaften Sanftheit der Stimmung, in der der Sonnenuntergang der Vallée d’Auge, jener rot und goldene Sonnenuntergang, den ich sonst sehr zu schätzen weiß, ausdruckslos und unbedeutend wird; in dieser feuchtwarmen Atmosphäre aber entfalten sich des Abends ganz plötzlich himmlische Blumengebinde in Rosa und in Blau,

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