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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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gefestigte Natur. Glauben Sie mir«, beschwor er meinen Vater, »die Wasser jener schon halb bretonischen Bucht können, wenn auch nicht mit voller Sicherheit, beruhigende Wirkung auf ein nicht mehr intaktes Herz wie das meine ausüben, auf ein Herz, dessen Schädigung durch nichts mehr auszugleichen ist. Sie sind jedoch völlig unangezeigt für Ihr Alter, mein Kleiner. Liebe Nachbarn, guten Abend«, setzte er noch hinzu und verließ uns mit jenem raschen Sichentziehen, das er an sich hatte; dann wandte er sich noch einmal um und rief uns mit dem erhobenen Finger des Arztes das Ergebnis seiner Konsultation zu: »Kein Balbec, bevor man fünfzig ist, und selbst dann kommt es auf den Zustand des Herzens an!«
    Mein Vater fing bei späteren Begegnungen immer wieder davon an; er setzte ihm mit Fragen zu, aber es war vergebens: Wie jener gelehrte Fälscher 1 , der auf die Herstellung unechter Palimpseste eine Arbeit und ein Wissen verwendete, dessen hundertster Teil genügt hätte, ihm eine einträglichere, dabei aber ehrenhafte Existenz zu sichern, hätte Legrandin, wenn wir noch weiter in ihn gedrungen wären, schließlich eher eine vollständige Landschaftsethik und Himmelsgeographieder unteren Normandie entworfen, als zuzugeben, daß zwei Kilometer von Balbec entfernt seine leibliche Schwester wohnte, und dadurch in die Lage zu kommen, uns einen Einführungsbrief an sie mitgeben zu müssen, der für ihn vielleicht nicht ein solcher Gegenstand des Schreckens gewesen wäre, hätte er unbedingt sicher sein können – was er bei seiner Kenntnis des Charakters meiner Großmutter ruhig hätte sein dürfen –, daß wir keinen Gebrauch davon gemacht hätten.

    Wir kehrten immer frühzeitig genug von unseren Spaziergängen heim, um meiner Tante Léonie vor dem Abendessen noch einen Besuch zu machen. Zu Beginn unseres Aufenthaltes, als die Tage früh zu Ende gingen, lag, wenn wir in der Rue du Saint-Esprit ankamen, stets ein Widerschein der Abendröte auf den Fenstern des Hauses und ein Purpurstreifen hinter den Baumgruppen des Kalvarienberges, der sich weiter fort im Teich spiegelte, eine Röte, die, oft von ziemlich lebhafter Kälte begleitet, in meinem Geist mit der Röte des Feuers eine Verbindung einging, über dem das Hähnchen briet, das für mich nach dem poetischen Vergnügen der Wanderung die Freuden der Tafel, der Wärme und Ruhe einleitete. Im Sommer hingegen ging die Sonne bei unserem Heimkommen noch nicht unter; erst während des Besuches, den wir bei Tante Léonie machten, senkte sich ihr Schein, traf das Fenster, wurde zwischen den dicken Vorhängen und ihren Haltern festgehalten, zerstreut, abgezweigt, gefiltert; ihr schräg einfallendes Licht erhellte das Zimmer mit jener Zartheit, die es im Dickicht des Waldes annimmt, und versah das Zitronenholz der Kommode mit Intarsien aus feinen goldenen Plättchen. An gewissen, freilich seltenen Tagen aber hatte, wenn wir ins Haus zurückkehrten, die Kommode seit langem diesen so kurzlebigen Intarsienschmuck verloren, undwenn wir in die Rue du Saint-Esprit einbogen, lag kein Widerschein des Abendrots mehr auf den Scheiben; der Teich zu Füßen des Kalvarienberges hatte seine Röte eingebüßt, war manchmal schon in Opalfarbe übergegangen, und eine lange Mondbahn, die immer breiter wurde und sich in den Wellenringen des Wassers brach, zog sich über die ganze Oberfläche hin. Wenn wir uns dann dem Hause näherten, erkannten wir eine Gestalt auf der Schwelle, und meine Mutter sagte zu mir:
    »Mein Gott! da steht Françoise und wartet auf uns; Tante Léonie sorgt sich sicherlich schon; wir sind aber auch spät dran.«
    Wir nahmen uns dann nicht die Zeit, erst unsere Sachen abzulegen, sondern eilten sofort zu Tante Léonie, um sie zu beruhigen und ihr durch unseren Anblick zu beweisen, daß uns entgegen ihren Befürchtungen nichts zugestoßen war, sondern daß wir nur »in Richtung Guermantes« gegangen waren, und, lieber Gott, meine Tante wußte ja, daß man, wenn man diesen Spaziergang machte, nicht so genau sagen konnte, wann man wieder zu Hause war.
    »Da sehen Sie, Françoise«, sagte meine Tante dann, »ich habe es Ihnen ja gesagt, sicher sind sie in Richtung Guermantes gegangen! Himmel, was müssen sie da für einen Hunger haben! Und Ihre Hammelkeule ist gewiß ganz trocken geworden, wo sie so lange schon fertig ist! Das ist aber auch eine Zeit, um nach Hause zu kommen! Soso, da seid ihr also in Richtung Guermantes gegangen!«
    »Aber ich dachte, Sie wüßten es,

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