Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
dafür auf, daß hinter der Milde, der Zerknirschung, den Tugenden von Françoise sich Küchentragödien verbargen, so wie die Geschichtsforschung aufdeckt, daß die Regentschaften von Herrschern und Herrscherinnen, die mit gefalteten Händen in Kirchenfenstern erscheinen, von blutigen Dramen erfüllt gewesen sind. Ich wurde mir klar darüber, daß nicht mit ihr verwandte menschliche Wesen ihr Mitleidum so mehr erregten, in je größerer Ferne sie ihr Dasein fristeten. Die Tränenströme, die sie beim Lesen der Zeitung über die Unglücksfälle vergoß, denen Unbekannte zum Opfer gefallen waren, versiegten schnell, wenn sie sich die davon heimgesuchte Person genauer vorstellen konnte. In einer der Nächte, die auf die Niederkunft des Küchenmädchens folgten, wurde diese von heftigen Koliken befallen; Mama hörte, wie sie jammerte, stand auf und weckte Françoise, die ganz ohne Mitgefühl erklärte, all dies Geschrei sei lediglich Komödie und das Mädchen wolle »sich nur bedienen lassen«. Der Arzt, der solche Anfälle für bedenklich hielt, hatte ein Lesezeichen in ein medizinisches Buch, das wir besaßen, an die Stelle gelegt, wo sie beschrieben wurden und wo wir nachschlagen sollten, um einen Hinweis für eine erste Hilfeleistung zu finden. Meine Mutter schickte Françoise, um das Buch zu holen, und wies sie an, auf das Lesezeichen achtzugeben. Nach einer Stunde war Françoise immer noch nicht zurück; meine Mutter war empört, denn sie glaubte, Françoise habe sich einfach wieder hingelegt, und trug mir auf, selbst in der Bibliothek nach dem Werk zu suchen. Dort fand ich Françoise, die, als sie hatte nachsehen wollen, was an der bezeichneten Stelle angegeben war, an die klinische Beschreibung des Anfalles geraten und in hemmungsloses Schluchzen ausgebrochen war, denn jetzt handelte es sich ja um einen ihr unbekannten »Fall«. Bei jedem schmerzhaften Symptom, das der Verfasser in seiner Abhandlung erwähnte, brach sie in Klagerufe aus wie: »O Gott, o Gott! Heilige Jungfrau! Ist es denn möglich, daß der liebe Gott ein armes Menschenkind so leiden lassen kann? Du lieber Himmel, die Arme!«
Doch als ich sie nun rief und sie wieder an dem Bett der Caritas von Giotto stand, hörten ihre Tränen augenblicks auf zu fließen, und sie verspürte nichts mehr vonjenen angenehmen Empfindungen des Mitleids und der Rührung, die sie so gut kannte und die die Lektüre der Zeitungen ihr oft geschenkt hatte, auch kein sonstiges Vergnügen einer ähnlichen Art; ärgerlich und gereizt, daß sie wegen des Küchenmädchens mitten in der Nacht hatte aufstehen müssen, fand sie angesichts derselben Leiden, deren Beschreibung sie zum Weinen gebracht hatte, nichts als ein übelgelauntes Brummen, in das sich sogar abscheuliche Sarkasmen mischten, denn als sie glaubte, wir seien schon fort und könnten sie nicht mehr hören, sagte sie: »Die hätte ja nur das nicht zu tun brauchen, was einen dahin bringt! Aber das hat ihr Vergnügen gemacht! Jetzt soll sie sich auch nicht so anstellen! Das muß ja wirklich ein gottverlassener Kerl gewesen sein, der sich mit so was eingelassen hat. Tatsächlich! Es ist genau so, wie man in der Mundart meiner Mutter selig sagte:
Qui du cul d’un chien s’amourose
Il lui paraît une rose.
Wer sich in einen Hundearsch verknallt,
dem scheint er eine Rose.«
Wenn ihr Enkel Schnupfen hatte, machte sie, nur um nachzusehen, ob er irgend etwas brauche, selbst wenn sie krank war, anstatt zu schlafen vier Meilen zu Fuß vor Tau und Tag, um für ihre Arbeit rechtzeitig wieder zur Stelle zu sein; auf der anderen Seite aber äußerten sich diese gleiche Liebe zu den Ihren und ihr Verlangen, die künftige Größe ihres Hauses zu sichern, im Rahmen ihrer Politik den anderen Dienstboten gegenüber in einer steten Maxime, die lautete, keinen je bei meiner Tante Fuß fassen zu lassen, an die sie – dahin ging ihr ganzer Stolz – überhaupt nie jemanden herankommen ließ; war sie selbst einmal krank, stand sie lieber selbst auf, um ihrdas Vichywasser zu verabreichen, als daß sie dem Küchenmädchen den Zutritt zum Zimmer ihrer Herrin gestattet hätte. Und wie jener von Fabre beobachtete Hymenopteros, die Schlupfwespe 1 , die, damit ihre Jungen nach ihrem Tod frisches Fleisch zur Verfügung haben, ihre Grausamkeit durch anatomisches Wissen unterbaut und gefangenen Rüsselkäfern und Spinnen mit staunenswerter Kenntnis und Geschicklichkeit das Nervenzentrum durchbohrt, von dem die Bewegung der Beine abhängt,
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