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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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jedoch die meinem Gewissen durch diese Eindrücke von Formen, Düften oder Farben mir auferlegte Pflicht so heftig, die Pflicht nämlich, zu erfassen, was sich hinterihnen verbarg, daß ich bald anfing, vor mir selbst Entschuldigungen zu finden, um mich dieser Anstrengung zu entziehen und mich nicht damit länger ermüden zu müssen. Zum Glück riefen meine Eltern nach mir; ich fühlte, daß ich im Augenblick nicht über die nötige Ruhe verfügte, um mit Nutzen weiterzuforschen, daß es besser sei, nicht mehr daran zu denken, bis ich zu Hause wäre, und mich nicht zuvor zwecklos abzuquälen. Ich beschäftigte mich dann also nicht mehr mit jenem Unbekannten, das sich in einer Form oder einem Duft verbarg, trug es aber beruhigt unter der Hülle von Bildern mit mir fort, unter denen ich es lebendig vorfinden würde wie die Fische, die ich an den Tagen, wo man mich fischen ließ, in meinem Korb unter einer Schicht von Gras kühl und frisch mit nach Hause brachte. War ich erst daheim, so dachte ich an anderes, und so häufte sich in meinem Geist (wie in meinem Zimmer die Blumen, die ich auf meinen Spaziergängen gepflückt hatte, oder die Dinge, die mir geschenkt worden waren) mancherlei an: ein Stein, auf dem ein Lichtreflex spielte, ein Dach, ein Glockenton, ein Blätterduft, viele verschiedene Bilder, unter denen seit langem schon die einst geahnte Wirklichkeit weggestorben war, die zu entdekken meine Willenskraft damals nicht ausgereicht hatte. 1 Einmal jedoch – als wir unseren Spaziergang weit über die gewohnte Zeit ausgedehnt hatten und deshalb froh waren, am späten Nachmittag auf halbem Heimweg Doktor Percepied zu begegnen, der in seinem Wagen dahergebraust kam, uns erkannte und zu sich einsteigen ließ – hatte ich einen Eindruck dieser Art, bei dem ich nicht nachgab, bis ich tiefer in ihn eingedrungen war. Man hatte mich zum Kutscher auf den Bock sitzen lassen, und wir fuhren wie der Wind, weil der Doktor vor der Heimkehr noch in Martinville-le-Sec einen Patienten besuchen mußte, vor dessen Tür wir auf ihn wartensollten. An einer Wegbiegung überkam mich auf einmal jenes besondere Glücksgefühl, das keinem anderen glich, beim Anblick der beiden Kirchtürme von Martinville, auf denen der Widerschein der sinkenden Sonne lag und die infolge der Wagenbewegung und der Windung der Straße den Platz zu wechseln schienen; es kam dann noch der von Vieuxvicq hinzu, der, von den beiden anderen durch einen Hügel und ein Tal getrennt, etwas höher in der Ferne liegt und ihnen dennoch ganz nahe benachbart schien.
    Wie ich die Form ihrer Spitzen, die Verschiebung ihrer Linien, die Sonne aufihrer Oberfläche wahrnahm, wie ich all dies in mir notierte, fühlte ich, daß ich damit meinem Eindruck nicht auf den Grund ging und daß hinter dieser Bewegung, hinter dieser Helligkeit sich etwas befand, das sie zu enthalten und zugleich zu verbergen schienen.
    Die Kirchtürme wirkten so fern, und es sah aus, als ob wir uns ihnen nur wenig näherten, so daß ich ganz erstaunt war, als wir gleich darauf vor der Kirche von Martinville hielten. Ich wußte nicht, weshalb es mich glücklich gemacht hatte, sie am Horizont zu erblicken, und der Zwang, nach dem Grund zu forschen, lastete quälend auf mir; ich hatte Lust, die Erinnerung an die sich verschiebenden Linien in meinem Geist aufzubewahren und im Augenblick nicht mehr daran zu denken. Hätte ich es getan, so wären wahrscheinlich die beiden Türme endgültig zu den zahllosen Bäumen, Dächern, Düften und Klängen gestoßen, die mir vor anderen aufgefallen waren wegen der unbestimmten Lust, die ihre Wahrnehmung mir verschaffte, der ich jedoch nie nachgegangen war. Ich stieg vom Wagen und plauderte mit meinen Eltern, während wir auf den Doktor warteten. Dann fuhren wir weiter, ich nahm meinen Platz auf dem Bock wieder ein, ich wandte den Kopf, um die Türmenoch einmal anzuschauen, die ich etwas später an einer Biegung des Weges noch ein letztes Mal sah. Da der Kutscher, der nicht zum Reden aufgelegt schien, auf meine Bemerkungen kaum eine Antwort gab, blieb mir nichts anderes übrig, als mangels anderer Gesellschaft mich ganz meiner eigenen zu überlassen und zu versuchen, mir meine Kirchtürme nochmals vorzustellen. Bald darauf brachen ihre Umrißlinien und besonnten Flächen gleich einer Schale auseinander und ließen etwas, was mir in ihnen verborgen geblieben war, nunmehr erkennen; es kam mir ein Gedanke, der einen Augenblick zuvor noch nicht in meinem Bewußtsein war und

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