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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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nach einem Augenblick der Lähmung beim Kontakt mit einer von meinen Erwartungen so sehr verschiedenen Wirklichkeit in Bewegung geriet und mir zuflüsterte: »Ruhmreich schon vor Karl dem Großen, hatten die Guermantes das Recht über Leben und Tod ihrer Untertanen; die Herzogin von Guermantes ist eine Nachfahrin Genovevas von Brabant. Sie kennt keine der Personen hier und würde auch nicht geruhen, eine kennenzulernen.«
    Und – o wunderbare Unabhängigkeit des menschlichen Blicks, der nur durch ein so loses, so langes, so dehnbares Band mit dem Antlitz verbunden ist, daß er sich weit von ihm entfernt bewegen kann – während Madame de Guermantes in der Kapelle über den Gräbern der Toten ihres Hauses saß, schweiften ihre Augen bald hierhin und bald dorthin, glitten an den Pfeilern empor, ruhten selbst auf mir wie ein flüchtiger Sonnenstrahl im Kirchenschiff, aber ein Sonnenstrahl, der mir in dem Augenblick, da er mich berührte, ein eigenes Bewußtsein zu haben schien. Madame de Guermantes selbst aber saß unbeweglich da wie eine Mutter, die die kecken Vorstöße und unbefangenen Unternehmungen ihrer Kinder nicht zu sehen scheint, wenn sie spielen und Personen anrufen, die sie gar nicht kennt; es war unmöglich für mich zu wissen, ob sie in ihrer unbeschäftigten Seele das Umherschweifen ihrer Blicke guthieß oder mißbilligte.
    Ich fand sehr wichtig, daß sie nicht etwa aufbräche, bevor ich sie genügend angeschaut hätte, denn ich erinnerte mich, daß mir seit Jahren schon ihr Anblick als überaus begehrenswert erschienen war; ich wandte nicht die Blicke von ihr, als ob jeder von ihnen auchstofflich etwas mitnehmen und für mich aufbewahren könnte von der Erinnerung an die vorspringende Nase, die roten Wangen und alle jene Einzelheiten, die mir wie ebenso viele kostbare, authentische und eigenartige Aussagen über ihr Antlitz erschienen. Jetzt, da ich aufgrund aller Gedanken, die ich mit ihr in Verbindung brachte – und besonders vielleicht von jener Form des Erhaltungstriebes, der den besten Seiten unseres Inneren eigen ist, nämlich dem Wunsch beseelt, nicht enttäuscht zu werden, den jeder von uns in sich trägt –, dieses Gesicht wieder schön fand und ihr wieder (weil eben doch diese Herzogin von Guermantes und jene, die ich bis dahin erträumte, ein und dieselbe Person waren) den alten Platz außerhalb der übrigen Menschheit zuerkannte, mit der ich sie bei dem einfachen, schlichten Anblick ihrer körperlichen Erscheinung hatte gleichsetzen können, ärgerte es mich, in meiner Umgebung Meinungen äußern zu hören wie: »Sie sieht besser aus als Madame Sazerat, als Mademoiselle Vinteuil«, als ob sie überhaupt mit jenen zu vergleichen gewesen wäre. Als meine Blicke auf ihren blonden Haaren, den blauen Augen und dem Halsansatz ruhten unter Übergehung aller jener Züge, die mich an andere Gesichter hätten erinnern können, sagte ich mir angesichts dieser bewußt lückenhaften Skizze voll Inbrunst: Wie schön sie ist! Welche Vornehmheit! Die Frau, die ich vor mir habe, ist jeder Zoll eine Guermantes, Nachkommin Genovevas von Brabant! Die Aufmerksamkeit, mit der ich ihr Gesicht erforschte, hob sie so sehr aus allem anderen heraus, daß es mir heute, wenn ich an jene Trauung zurückdenke, unmöglich ist, eine einzige der Personen vor mir zu sehen, die dabei anwesend waren, außer ihr selbst und dem Küster, der mir bejahend antwortete, als ich ihn fragte, ob die Dame wirklich Madame de Guermantes sei. Sie aber sehe ich zumal im Schlußdéfilé inder Sakristei, die von der heißen und zeitweilig verdunkelten Sonne eines stürmischen Gewittertags beleuchtet war und wo Madame de Guermantes sich inmitten all der Leute von Combray befand, deren Namen sie nicht einmal kannte, deren geringerer Stand jedoch zu sehr ihre eigene Überlegenheit ins Licht rückte, als daß sie nicht aufrichtiges Wohlwollen für sie hätte verspüren sollen, und denen sie außerdem durch Liebenswürdigkeit und Schlichtheit nur um so mehr zu imponieren dachte. Da sie aber nun nicht die vom Willen gelenkten und mit einer bestimmten Bedeutung beladenen Blicke aussenden konnte, wie man sie Menschen zuwirft, die man kennt, sondern nur ihre zerstreuten Gedanken unaufhörlich in einer Flut von blauem Licht ergoß, die sie nicht zurückhalten konnte, wollte sie dennoch nicht diese kleinen Leute, denen sie auf ihrem Weg begegnete und auf die ihr Auge unwillkürlich fiel, in Verlegenheit bringen noch den Anschein erwecken, als verachte

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