Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
ich am meisten von Madame de Guermantes hatte sprechen hören; er hatte uns sogar die Nummer einer Zeitschrift gezeigt, in der sie in dem Kleid abgebildet war, das sie auf einem Kostümfest der Fürstin von Léon getragen hatte. 2
Bei der Trauungszeremonie sah ich auf einmal, als der Küster etwas zur Seite rückte, in einer Kapelle eine blonde Dame sitzen mit großer Nase, blauen, durchdringenden Augen, einer wallenden Krawatte aus malvenfarbener, glatter, neuer, glänzender Seide und einem kleinen Pickel im Nasenwinkel. Und weil ich auf ihremroten Gesicht, das aussah, als sei sie sehr erhitzt, in verwischter und kaum merklicher Form Spuren einer Ähnlichkeit mit dem Bild entdeckte, das mir gezeigt worden war, auch weil ich die hervorstechenden Züge, die ich an ihr bemerkte, wenn ich sie zu bezeichnen versuchte, genau mit den gleichen Ausdrücken: große Nase, blaue Augen benennen mußte, die Doktor Percepied gebraucht hatte, als er in meiner Gegenwart die Herzogin von Guermantes beschrieb, sagte ich mir: Diese Dame sieht aus wie Madame de Guermantes. Die Kapelle aber, von der aus sie der Trauungszeremonie folgte, war die Gilberts des Bösen, unter deren flachen Grabsteinen, die wie goldene gefüllte Honigwaben dalagen, die ehemaligen Herzöge von Brabant ruhten; wie ich mich erinnerte gehört zu haben, war sie für die Familie Guermantes reserviert, wenn eines ihrer Glieder zu einer kirchlichen Handlung nach Combray kam; es konnte aber mit Wahrscheinlichkeit nur eine einzige dem Porträt der Herzogin von Guermantes ähnliche Frau geben, die gerade an dem Tag, an dem jene kommen sollte, sich in dieser Kapelle befand: es war die Herzogin selbst! Meine Enttäuschung war groß. Sie rührte daher, daß ich bei meiner Vorstellung von Madame de Guermantes mir nicht klargemacht hatte, daß ich sie immer mit den Farben eines Gobelins oder einer Glasmalerei vor mir sah, in einem anderen Jahrhundert also und aus anderem Stoff gemacht als alle anderen Menschen. Niemals war ich auf den Gedanken gekommen, daß sie ein rotes Gesicht und eine malvenfarbene Krawatte wie Madame Sazerat haben könnte, und die Rundung ihrer Wangen erinnerte mich so sehr an Personen, die ich bei uns im Haus gesehen hatte, daß der allerdings sich gleich wieder verflüchtigende Verdacht in mir aufstieg, diese Dame sei in ihrem Grundprinzip, in ihren einzelnen Molekülen vielleicht gar nicht wesensmäßig dieHerzogin von Guermantes, sondern sie gehöre physisch betrachtet vielmehr ohne Rücksicht auf den Namen, den sie trug, einem gewissen weiblichen Typus an, den es auch bei Gattinnen von Ärzten und Geschäftsleuten gab. »Das also, bloß das ist Madame de Guermantes!« besagte die aufmerksame, verwunderte Miene, mit der ich dieses Bild betrachtete, das naturgemäß nichts mit jenen Bildern gemein hatte, die mir so häufig unter demselben Namen »Madame de Guermantes« in meinen Träumen erschienen waren, da dieses, das ich hier vor mir sah, nicht willkürlich von mir gestaltet, sondern mir eben erst, vor einem Augenblick, ganz plötzlich in der Kirche vor die Augen getreten war: es war nicht von gleicher Substanz wie jene, ließ sich nicht wie sie nach Belieben färben, sich nicht mit dem Orangeton einer Endsilbe tönen, sondern war so wirklich, daß alles, selbst der kleine entzündete Pickel an der Nasenwurzel darauf hinwies, daß sie den Gesetzen des Lebens unterstand, so wie in einer Schlußapotheose im Theater ein Faltenzittern am Kleid der Fee, ein Beben in ihrem kleinen Finger die körperliche Gegenwart einer lebenden Schauspielerin verrät, wo wir vorher zweifelten, ob wir nicht vielleicht eine bloße Lichtprojektion vor uns hätten.
Gleichzeitig aber versuchte ich auf dieses Bild, das sich durch die vorspringende Nase und die durchdringenden Augen in meinem Blickfeld fixiert hatte (vielleicht weil diese Züge es als erste getroffen, den ersten Eindruck darin eingezeichnet hatten in dem Augenblick, wo ich noch nicht Zeit gehabt hatte zu denken, daß die Frau da vor mir Madame de Guermantes sein könnte), auf dieses ganz neue also, doch schon nicht mehr auswechselbare Bild die Idee zu heften: »Das ist Madame de Guermantes«, doch konnte ich sie lediglich vor dem Bild hin und her bewegen, als wären es zwei durch einen Zwischenraum getrennte Scheiben. JeneMadame de Guermantes aber, von der ich so oft geträumt hatte, bekam jetzt, als ich sah, daß sie tatsächlich außerhalb von mir existierte, um so mehr Macht über meine Phantasie, die
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