Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
die Erinnerung an die, die darauf wandelten. Manchmal löst sich ein Stück Landschaft, das ich bis auf den heutigen Tag lebendig erhalten habe, so völlig von allem übrigen ab, daß es ganz für sich und unbestimmbar in meinen Gedanken umherschwimmt wie ein blühendes Delos, ohne daß ich sagen kann, aus welcher Gegend, aus welcher Zeit – vielleicht aus welchem Traum auch einfach nur – es stammt. Die Gegend von Méséglise und die Gegend von Guermantes erschienen mir jedoch vor allem als die tiefsten Schichten meines geistigen Heimatbodens, als der feste Grund, auf den ich mich immer noch abstütze. Weil ich an die Dinge, die Wesen glaubte, während ich jene Gegenden durchschritt, sind die Dinge und Wesen, die ich in ihnen kennenlernte, die einzigen, die ich heute noch ernst nehmen kann und die mir Freude schenken. Ob nun der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich nur aus der Erinnerung formt, jedenfalls kommen mir Blumen, die man mir heute zum erstenmal zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor. Die Gegend nach Méséglise zu mit ihren Fliederbüschen, den Weißdornhecken, den Kornblumen und dem Mohn, den Apfelbäumen, die Gegend von Guermantes mit dem Fluß, mit Kaulquappen, Seerosen und den Butterblumen haben für alle Zeiten das Antlitz des Landes geprägt, in dem ich leben möchte; dort müßte man vor allem fischen, Kahn fahren, Ruinen mittelalterlicher Befestigungen ansehen und mitten im Getreidefeld, so wie in Saint-André-des-Champs, eine wuchtige, ländliche Kirche antreffen können, die den goldenen Schimmervon reifen Garben hat; und die Kornblumen, der Weißdorn, die Apfelbäume, die ich manchmal, wenn ich reise, auf den Feldern sehe, treten, weil sie auf der gleichen Höhe oder Tiefe mit meiner Vergangenheit gelegen sind, sofort mit meinem Herzen in Verbindung. Und doch, da ja auch die Stätten Individuen sind, würde es nicht genügen, wenn ich den Wunsch verspürte, die Gegend von Guermantes wiederzusehen, daß man mich an das Ufer eines Flusses führte, wo es ebenso schöne, ja schönere Seerosen gibt als auf der Vivonne, ebensowenig wie ich mir beim Nachhausekommen – zu der Stunde, wo in mir jene Angst aufstieg, die später in die Liebe übergeht und von ihr unzertrennlich werden kann – jemals gewünscht hätte, eine schönere und klügere Mutter als die meinige wäre gekommen, mir gute Nacht zu sagen. Nein; wie das, was ich brauchte, um glücklich einzuschlafen, in jenem ungetrübten Frieden – den seither keine Geliebte mir zu schenken vermochte, weil man an ihr noch zweifelt im Augenblick, da man an sie glaubt, und weil man ihr Herz niemals so besitzt, ungeteilt, ohne Vorbehalt oder Hintergedanken, ohne den Bodensatz einer Absicht, die nicht für einen bestimmt ist, wie ich in einem Kuß das meiner Mutter geschenkt bekam – eben sie selber war, ihr Antlitz, das sich mir entgegenneigte und in dem unter dem Auge etwas sichtbar war, was ich, obwohl es als ein Schönheitsfehler galt, genauso liebte wie alles übrige, ist auch das, was ich wiedersehen will, die Gegend von Guermantes, die ich gekannt habe, mit dem Bauernhof, der von den beiden anderen dicht beieinander gelegenen etwas abseits steht am Eingang der Eichenallee; jene Wiesengründe, auf denen, wenn in der Sonne die Dinge sich darin zu spiegeln scheinen wie in einem Teich, die Blätter der Apfelbäume sich abzeichnen, die Landschaft, deren ganz persönliche Art mich manchmal des Nachtsin meinen Träumen mit fast wundersamer Kraft umfängt und die ich doch beim Erwachen nicht wiederfinden kann. Gewiß dadurch, daß sie in mir verschiedene Eindrücke unauflöslich miteinander verknüpft haben, weil ich sie in ihnen zu gleicher Zeit erlebte, haben mich die Gegend von Méséglise und die von Guermantes in der Zukunft vielen Enttäuschungen ausgesetzt und tragen an manchem meiner Fehler die Schuld. Denn oft habe ich einen Menschen wiedersehen wollen, ohne mir darüber klar zu sein, daß es nur deswegen war, weil er mich an eine Weißdornhecke erinnerte, und bin durch ein bloßes Reisebedürfnis verleitet worden, an einen Nachsommer der Liebe zu glauben und andere daran glauben zu machen. Doch gerade dadurch und durch ihre Kraft, in solchen meiner heutigen Eindrücke gegenwärtig zu bleiben, mit denen jene Gegenden eine Verbindung eingehen können, geben sie diesen einen festeren Untergrund, eine größere Tiefe, eine weitere Dimension, als alle anderen haben. Auch fügen sie ihnen einen Zauber und eine
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