Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
sie sie. Ich sehe noch über ihrer malvenfarbenen, seidig sich bauschenden Krawatte das sanfte Staunen ihres Blicks, dem sie, ohne doch zu wagen, es einem einzelnen zu bestimmen, sondern nur, damit alle ihren Teil davon auf sich beziehen könnten, das etwas schüchterne Lächeln einer Lehnsherrin mitgab, die sich bei ihren Untertanen zu entschuldigen und sie zu lieben scheint. Dieses Lächeln fiel auf mich, der ich sie nicht aus den Augen ließ. Da erinnerte ich mich wieder an den Blick, blau wie ein durch das Fenster Gilberts des Bösen filtrierter Sonnenstrahl, den sie während der Messe auf mir hatte ruhen lassen, und ich sagte mir: Ganz sicher bin ich ihr besonders aufgefallen. Ich glaubte, ich gefalle ihr, sie werde noch nach Verlassen der Kirche an mich denken und meinetwegen vielleicht am Abend traurig sein in Guermantes. Und auf der Stelle liebte ich sie, denn mag es manchmal genügen, damit wir eine Frau lieben, daß sieuns mit Verachtung anblickt – wie ich glaubte, daß Mademoiselle Swann es getan habe – und daß wir denken, sie werde uns niemals gehören, so genügt es ein anderes Mal, daß sie uns mit Güte anschaut, wie Madame de Guermantes es tat, und daß wir uns vorstellen, sie könne einmal uns gehören. Ihre Augen leuchteten so blau wie blühendes Sinngrün, das man nicht pflücken kann und das sie mir dennoch zum Geschenk gemacht hätte; und die Sonne, die von einer Wolke bedroht war, aber noch mit aller Kraft auf den Platz und in die Sakristei hineinprallte, färbte die roten Teppiche, die für die Feierlichkeit auf dem Boden ausgebreitet waren und auf denen Madame de Guermantes lächelnd einherschritt, mit leuchtendem Geranienrot und überdeckte gleichzeitig das Wollgewebe, aus dem sie bestanden, mit etwas rosig Samtigem, einer Haut von Licht, jener Art von warmer Zärtlichkeit des Tons, von ernster Süße im Prunk und in der Freude, die für einzelne Stellen im Lohengrin und gewisse Bilder Carpaccios charakteristisch ist und die verstehen läßt, weshalb Baudelaire den Klang der Trompete mit dem Epitheton »köstlich« versehen hat. 1
Wieviel betrübender noch als zuvor schien es mir seit jenem Tag auf meinen Spaziergängen in die Gegend von Guermantes, daß ich keine Begabung fürs Schreiben besaß und darauf verzichten mußte, je ein berühmter Schriftsteller zu werden. Das Bedauern, das ich darüber empfand, während ich allein und abseits träumte, machte mich so niedergeschlagen, daß mein Geist, damit ich es weniger fühlte, von sich aus in einer Art von Zurückweichen vor dem Schmerz ganz und gar vermied, bei dem Gedanken an Verse, Romane oder an eine Dichterzukunft zu verweilen, mit denen ich offensichtlich aus Mangel an Talent nicht würde rechnen können. So nun, völlig außerhalb von jeder literarischen Absichtund ohne einen Gedanken daran, fühlte ich manchmal meine Aufmerksamkeit plötzlich gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch eines Weges, und zwar gewährten sie mir dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, daß sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch anderes verborgen, das sie mich zu suchen aufforderten und das ich trotz aller Bemühungen nicht zu entdecken vermochte. Da ich genau fühlte, daß es in ihnen war, blieb ich unbeweglich stehen, um sie anzuschauen, einzuatmen, um den Versuch zu machen, mit meinem Denken über das Bild oder über den Duft noch hinauszugelangen. Wenn ich dann meinen Großvater einholen und meinen Weg fortsetzen mußte, suchte ich sie wiederzufinden, indem ich meine Augen schloß; ich konzentrierte mich völlig darauf, genau die Linie des Daches, den exakten Farbton des Steines wiederzufinden, die, ohne daß ich begreifen konnte warum, mir mit etwas angefüllt schienen und bereit, sich zu öffnen, um mir auszuliefern, wovon sie selbst nur die Hülle waren. Gewiß waren es nicht Eindrücke dieser Art, die mir die verlorene Hoffnung wiedergeben konnten, eines Tages Schriftsteller und Dichter zu werden, denn sie waren immer an einen bestimmten Gegenstand ohne allen geistigen Gehalt und ohne Beziehung zu einer abstrakten Wahrheit geknüpft. Doch sie vermittelten mir wenigstens ein vernunftmäßig nicht erklärbares Vergnügen, die Illusion von einer Art Fruchtbarkeit, und lenkten mich dadurch von meinem Kummer, jenem Gefühl der Ohnmacht ab, von dem ich immer befallen worden war, wenn ich nach einem philosophischen Gegenstand für ein großes literarisches Werk gesucht hatte. Ich empfand
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