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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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von Combray nur noch durch eine Eichenallee getrennt war, die auf der einen Seite von Wiesen begrenzt wurde, deren jede zu einem kleinen, in gleichen Abständen mit Apfelbäumen bepflanzten Grundstück gehörte und im Schein der Abendsonne mit einer Art von japanischem Schattenmuster marmoriert war, fing mit einem Male mein Herz heftig zu schlagen an; ich wußte, daß wir in längstens einer halben Stunde zu Hause angelangt sein würden und daß man, wiejedesmal, wenn wir in Richtung Guermantes gegangen waren und es mit dem Abendessen später wurde, mich zu Bett schicken würde, sobald ich meine Suppe gegessen hätte, und meine Mutter, die noch bei Tisch bleiben mußte, wie wenn wir Gäste hätten, mir dann nicht gute Nacht sagen käme. Die Sphäre der Niedergeschlagenheit, in die ich eintrat, hob sich so deutlich von der Sphäre ab, in deren Höhen ich eben noch voll Freude geschwebt hatte, wie manchmal auf dem Abendhimmel ein rosa Streifen gegen einen grünen oder schwarzen ganz klar abgegrenzt ist. Man sieht dann einen Vogel in dem rosigen Streifen fliegen, er erreicht die Grenze, berührt den schwarzen Bezirk und verschwindet auf einmal darin. Die Wünsche, die mich eben noch bewegten, nach Guermantes zu gehen, zu reisen, glücklich zu sein, lagen mir mit einem Male so fern, daß mir ihre Erfüllung keine Freude mehr gewährt haben würde. Wie gern hätte ich das alles dafür hingegeben, die ganze Nacht in den Armen meiner Mutter weinen zu können! Ich fröstelte, ich wandte meinen angstvollen Blick von Mamas Antlitz nicht mehr ab; sie würde heute abend nicht in meinem Zimmer erscheinen, wo ich mich in Gedanken schon sah; ich hätte sterben mögen. Und dieser Zustand würde nun bis morgen früh andauern, wenn ich – sobald die Sonnenstrahlen ihre Sprossenleiter wie der Gärtner an die Hauswand lehnten, die bis zu meinem Fenster hinauf mit kletternder Kapuzinerkresse bedeckt war – aus dem Bett springen und in den Garten hinuntereilen würde, ohne noch daran zu denken, daß der Abend wieder die Stunde der Trennung von meiner Mutter herbeiführen werde. So habe ich in der Gegend von Guermantes diese verschiedenen Zustände unterscheiden gelernt, die in meinem Innern zu gewissen Zeiten aufeinanderfolgen und schließlich jeden Tag sich in der Weise teilen, daß mit der Pünktlichkeit eines Wechselfiebers der eineden anderen vertreibt; dicht beieinanderliegend, haben sie doch so wenig miteinander zu tun, es besteht so gar keine Verbindung zwischen ihnen, daß ich nicht mehr verstehen und mir überhaupt nicht vorstellen kann, was ich mir in dem einen gewünscht, was gefürchtet habe, und was in dem anderen getan.
    Daher bleiben die Gegend von Méséglise und die Gegend von Guermantes für mich mit vielen kleinen Ereignissen desjenigen der vielen verschiedenen Leben, die wir nebeneinander führen, verknüpft, das die meisten Peripetien mit sich bringt und am episodenreichsten ist, nämlich des geistigen Lebens. Gewiß schreitet es in uns ganz unmerklich fort, und die Wahrheiten, die für uns seinen Sinn und die Vorstellung, die wir von ihm haben, abgewandelt und uns neue Wege gewiesen haben, sind von uns in ihren Anfängen schon lange zuvor entdeckt, doch merkten wir es nicht; in unserem Bewußtsein datieren sie erst seit dem Tag, seit der Minute, da sie uns sichtbar geworden sind. Die Blumen, die damals auf dem Gras spielten, das Wasser, das hinfloß im Sonnenschein, die ganze Landschaft, die ihr Erscheinen umrahmte, begleiten auch die Erinnerung daran mit ihrem seiner selbst nicht bewußten, gedankenlosen Gesicht; und gewiß, wenn sie lange betrachtet wurden von dem bescheidenen Wanderer, von dem seinen Träumen nachhängenden Kind – so wie ein König von einem in der Menge verlorenen Chronisten – haben dieses Eckchen hier der Natur, jener Gartenwinkel dort nicht geahnt, daß sie es ihm zu danken haben, wenn sie dazu berufen sind, in ihren flüchtigsten Eigentümlichkeiten die Zeiten zu überdauern; und doch hat meine gesteigerte Aufnahmebereitschaft damals den Duft des Weißdorns, der die Hecken umsummt, wo die Röschen ihn bald schon ablösen werden, das gedämpfte Geräusch von Schritten auf dem Kies eines Gartenweges, eine Blase, die dasWasser des Flusses am Stengel einer Seerose nach oben steigen und zerplatzen läßt, durch so viele aufeinanderfolgende Jahre hindurch erfolgreich mit sich weitergetragen, während ringsum die Wege verschwunden und die Menschen gestorben sind, die darauf wandelten, wie auch

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