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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Mein Gott! schon neun Uhr! Ich muß mich ja schnell für die Kirche anziehen, wenn ich vorher noch Tante Léonie guten Morgen sagen will, und im voraus schon kannte ich die Farbe der Sonne auf dem Platz, die Hitze und den Staub auf dem Markt oder den Schatten unter der Markise des Ladens, in den Mama vielleicht vor dem Hochamt noch hineingehen würde, um inmitten des Duftes von ungebleichtem Leinen etwa ein Taschentuch zu kaufen, das ihr der Inhaber mit durchgedrücktem Kreuz vorlegen würde, nachdem er, im Begriff zu schließen, rasch noch im Hinterzimmer seinen Sonntagsrock angelegt und sich die Hände geseift hatte, die er gewohnheitsmäßig alle fünf Minuten selbst bei den melancholischsten Anlässen mit einer Miene zu reiben pflegte, in der sich Unternehmungsgeist, Sinn für galante Abenteuer und Erfolgsstimmung mischten.
    Wenn wir nach der Messe noch bei Théodore vorbeigingen, um ihm zu sagen, er möge uns eine größere Brioche als gewöhnlich schicken, da unsere Verwandten das schöne Wetter benutzt hätten, um von Thiberzy zum Mittagessen herüberzukommen, so hatten wir, gleich einer größeren, geweihten Brioche, den goldbraun gebackenen Kirchturm vor uns, blättrig und klebrigtropfend vor Sonne, der seine scharfe Spitze in den blauen Himmel schob. Und am Abend, wenn ich vom Spaziergang heimkehrte und an den nahen Augenblick dachte, wo ich meiner Mutter gute Nacht sagen und dann auf ihren Anblick verzichten müßte, lag er dagegen so sanft im Licht des sinkenden Tages da, daß er wie ein Kissen aus dunklem Samt leicht in den blassen Himmel eingedrückt schien, der nachgebend sich ein wenig zurückgewölbt hatte, um ihm Platz zu machen, und weich an den Rändern hervorquoll; und das Krächzen der Vögel, die ihn umkreisten, schien sein Schweigen noch zu vermehren, seine Spitze noch schlanker emporzutreiben und ihm etwas Unsagbares zu verleihen.
    Selbst bei den Besorgungen, die man hinter der Kirche zu machen hatte, dort, wo man sie nicht sah, schien alles irgendwie auf den Glockenturm ausgerichtet, der an vereinzelten Stellen zwischen den Häusern auftauchte, vielleicht noch bewegender, wenn man ihn so, ohne die Kirche, erblickte. Sicher gibt es andere, die, auf diese Weise gesehen, noch viel schöner sind, und ich habe viele solcher vignettenartiger Bilder in meiner Erinnerung, Kirchtürme, die über Dächer ragen, von denen eine ganz andere künstlerische Wirkung ausgeht als von den tristen Straßen Combrays. Niemals werde ich die in einer merkwürdigen Stadt der Normandie nicht weit von Balbec gelegenen zwei bezaubernden Häuser aus dem achtzehnten Jahrhundert vergessen – in vielerlei Hinsicht sind sie mir verehrungswürdig und teuer –, zwischen denen, wenn man sie von dem schönen Garten aus betrachtet, der sich von den Terrassen zum Fluß hinuntersenkt, die gotische Turmspitze einer Kirche sichtbar wird, die sie sonst verbergen, die nun aber ihre Fassaden gleichsam abschließt und überhöht; sie selbst jedoch scheint von so anderer, kostbarerer Substanz zu sein, geriffelt, rosig und mit glänzender Lasurüberhaucht, daß man sofort den Eindruck bekommt, sie gehöre sowenig dazu wie etwa die purpurfarbene, gezackte Spitze einer Muschel, die selbst wie ein schmelzüberzogenes Türmchen wirkt, zu den zwei glatten Uferkieseln, zwischen denen sie hängengeblieben ist. Sogar in einem der häßlichsten Stadtviertel von Paris ist mir ein Fenster bekannt, durch das man über eine erste, zweite und auch noch dritte von dem Dächerkonglomerat mehrerer Straßenzüge gebildete Kulissenwand hinweg bald violett, bald rötlich, manchmal aber auch – auf den edelsten Abzügen, die die Atmosphäre davon schafft – wie in einem aus Asche gewonnenen schwarzen Ton eine Glocke sieht, die nichts anderes ist als die Kuppel von Saint-Augustin und die dieser Ansicht von Paris etwas von gewissen römischen Veduten Piranesis gibt. 1 Da jedoch mein Gedächtnis in keine dieser kleinen Gravüren, mochten sie von ihm auch mit noch so viel Geschmack ausgeführt worden sein, das hineinlegen konnte, was ich seit langem verloren hatte, das Gefühl nämlich, aufgrund dessen wir eine Sache nicht wie ein Schauspiel betrachten, sondern daran glauben als an eine Wesenheit, die ihresgleichen nicht hat, wirkt keine von ihnen auf die tiefen Bereiche meines Lebens ein, wie die Erinnerung an jene verschiedenen Aspekte des Glockenturms von Combray in den Straßen hinter der Kirche es tut. Ob man ihn um fünf Uhr sah, wenn man die Briefe von

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