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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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jedesmal: »Auf, nehmt eure Decken, wir sind angekommen.« Und auf einem unserer ausgedehntestenSpaziergänge von Combray aus gab es eine Stelle, wo die vorher enger werdende Straße sich plötzlich auf ein weites Plateau öffnete, das von einem gezackten Waldhorizont eingefaßt war, über den einzig die feine Spitze des Glockenturms von Saint-Hilaire sich erhob, so schmal, so rosigzart, daß sie nur mit dem Nagel auf den Himmel eingeritzt schien in der Absicht, auf diese Landschaft, dieses aus nichts als Natur bestehende Bild, ein kleines Zeichen von Kunst, eine einzige Note menschlicher Anwesenheit zu setzen. Wenn man näherkam und den Rest des viereckigen halbzerstörten Turms wahrnehmen konnte, der in geringerer Höhe neben ihm aufragte, so fiel einem besonders der düsterrötliche Ton der Steine auf; an einem nebligen Herbstmorgen hätte man meinen können, mitten zwischen den violetten Gewittertönen der Weingärten erhebe sich eine Ruine von der Purpurfärbung etwa des wilden Weins.
    Wenn wir nach Hause gingen, hieß mich meine Großmutter oft auf dem Platz einen Augenblick stehenbleiben und ihn betrachten. Aus seinen Fenstern, die paarweise übereinanderstanden mit jenem richtigen und echten Maß in den Entfernungen, das nicht nur menschlichen Gesichtern Schönheit und Würde verleiht, ließ er in regelmäßigen Intervallen Schwärme von Raben frei, ja ließ sie eigentlich hinunterfallen, worauf die Vögel einen Augenblick lang krächzend herumkreisten, als seien die alten Steine, die, offenbar ohne sie zu sehen, ihr Treiben duldeten, mit einem Male unbewohnbar geworden und hätten sie, eine unendlich sich fortsetzende Bewegung damit auslösend, geschlagen und von sich gestoßen. Nachdem sie dann nach allen Richtungen hin den violetten Samt der Abendluft mit Streifen überzogen hatten, kehrten sie plötzlich beruhigt zu dem Turm zurück, der, eben noch unheilkündend, auf einmal wieder glückbringend schien und sie in sich aufnahm,wobei einige hier und da auf der Spitze einer Fiale sitzen blieben, ohne sichtbare Bewegung, vielleicht aber nach einem Insekt schnappend, so wie eine Möwe sich mit der Unbeweglichkeit eines Anglers auf der Krone einer Welle tragen läßt. Ohne recht zu wissen warum, glaubte meine Großmutter, an dem Glockenturm von Saint-Hilaire jenes aller Gewöhnlichkeit, aller Anmaßung, allem Kleinlichen Abholde zu entdecken, um dessentwillen sie auch nicht nur die Natur liebte und sie voll heilsamer Kräfte glaubte überall da, wo die Hand des Menschen sie nicht – wie der Gärtner meiner Großtante – verkleinert hatte, sondern auch die genialen Werke. Gewiß, jeder Teil der Kirche, den man betrachtete, unterschied sie von jedem anderen Bauwerk durch eine Art gedanklichen Gehalts, von dem er durchdrungen war, in ihrem Glockenturm aber schien sie sich ihrer selbst bewußt zu werden und eine individuelle, verantwortungsvolle Existenz zu bekräftigen. Er sprach gewissermaßen für sie. Ich glaube vor allem, daß meine Großmutter in diesem Glockenturm von Combray undeutlich das verspürte, was für sie der höchste Wert auf Erden war: natürliches und vornehmes Aussehen. Unbewandert in Dingen der Baukunst, pflegte sie zu sagen: »Kinder, ihr könnt über mich lachen, wenn ihr wollt, er ist vielleicht nach den Regeln nicht schön, aber seine alte bizarre Erscheinung gefällt mir nun einmal. Ich bin sicher, daß er, wenn er Klavier spielte, nie ›trocken‹ spielen würde.« Und wenn sie ihn anschaute und ihr Blick der sanften Spannung und dem leidenschaftlichen Schwung dieser steinernen Schrägen folgte, die oben schmal ineinanderliefen wie zwei betende Hände, dann wurde sie so sehr eins mit dem Aufwärtsstreben der Spitze, daß ihr Blick mit ihr sich in die Höhe zu schwingen schien; gleichzeitig lächelte sie freundlich den alten abgenutzten Steinen zu, deren obersten Teil noch die Abendsonne erhellte unddie von da an, wo sie in diese besonnte Zone hineinreichten, vom Licht besänftigt mit einem Male viel höher, viel entrückter schienen, so wie eine Gesangspartie, die mit »Kopfstimme« eine Oktave höher wieder aufgenommen wird.
    Es war der Glockenturm von Saint-Hilaire, der allen Beschäftigungen, allen Stunden, allen Aussichtspunkten der Stadt ihr Gesicht, ihre Krönung, ihre Weihe verlieh. Von meinem Zimmer aus war nur die Basis sichtbar, die mit Schindeln nachgedeckt war; wenn ich diese aber an einem heißen Sommersonntagmorgen wie eine schwarze Sonne strahlen sah, sagte ich mir:

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