Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
zum anderen, einer Kapelle zur anderen nicht nur einige Meter zu durchmessen und zu überwinden schien, sondern aufeinanderfolgende Epochen, aus denen er siegreich hervorging; das rauhe und wilde elfte Jahrhundert verbarg er in der Dicke seiner Mauern, innerhalb deren es mit seinen schwerfälligen, mit groben Bruchsteinen zugemauerten und abgeblendeten Mauerbogen einzig an dem tiefen Einschnitt neben dem Vorbau für die Treppe zum Glockenturm sichtbar wurde, selbst da aber hinter anmutigen gotischen Arkaden versteckt, die sich kokett davorschoben, etwa so wie große Schwestern lächelnd vor einen ungehobelten, mißlaunigen und schlecht gekleideten kleinen Bruder treten, den sie den Augen der Fremden verbergen wollen; in den Himmel über dem Kirchplatz reckte er seinen Turm, der schon Ludwig den Heiligen gesehen hatte und ihn noch immer zu sehenschien; und mit seiner Krypta drang er in merowingisches Dunkel, in das uns Théodore und seine Schwester tastend hinabführten, um unter der düsteren und wie die Flügel einer riesigen steinernen Fledermaus von mächtigen Rippen durchzogenen Wölbung mit einer Kerze das Grab der kleinen Tochter Sigeberts zu beleuchten, auf dem eine tief eingebuchtete Muschelschale – wie der Abdruck eines Riesenfossils – dem Vernehmen nach »von einer Kristallampe herrührte, die am Abend der Ermordung der fränkischen Königstochter sich von selbst aus den goldenen Ketten gelöst hatte, an denen sie an der Stelle der heutigen Apsis hing, und die, ohne daß das Kristall zerbrach oder die Flamme erlosch, sich in den weich unter ihr nachgebenden Stein hineingesenkt hatte.« 1
Die Apsis der Kirche von Combray – ist sie überhaupt der Rede wert? Sie war so plump, so völlig ohne künstlerische Schönheit, ja ohne Inbrunst. Von außen gesehen, erhob sich ihr grobes Mauerwerk über einer etwas tiefer gelegenen Straßenkreuzung auf einem Unterbau aus unbehauenen Steinen, der von spitzen Kieseln starrte und nichts spezifisch Kirchliches besaß, die Fenster schienen außerordentlich hoch angebracht, und das Ganze sah mehr wie eine Gefängnismauer denn wie eine Kirche aus. Gewiß wäre mir auch später, wenn ich mich an alle die großartigen Apsiden erinnerte, die ich gesehen hatte, niemals der Gedanke gekommen, ihnen die Apsis von Combray zur Seite zu stellen. Doch eines Tages bemerkte ich in einer kleinen Provinzstadt hinter der Kreuzung dreier Straßen eine unansehnliche und übermäßig hohe Mauer mit hochgelegenen Fenstern, die den gleichen unsymmetrischen Anblick bot wie die Apsis von Combray. Da habe ich nicht danach gefragt, wie in Chartres oder in Reims, ob sich darin ein mehr oder weniger machtvolles religiöses Gefühl bekundete, sondern rief nur unwillkürlich aus: »Die Kirche!«
Die Kirche! Eine Wohlvertraute, lag sie doch in der Rue Saint-Hilaire, auf die das Nordportal ging, unmittelbar und ohne Zwischenraum zwischen ihren beiden Nachbarinnen, der Apotheke von Monsieur Rapin und Madame Loiseaus Haus; eine schlichte Bürgerin der Stadt, die, wären die Häuser in den Straßen von Combray numeriert gewesen, es ebenfalls hätte sein können; man hätte sich nicht gewundert, wenn der Briefträger auf seinem Bestellgang jeden Morgen, wenn er von Monsieur Rapin kam und bevor er sich zu Madame Loiseau begab, auch bei ihr Halt gemacht hätte; und dennoch bestand zwischen ihr und allem, was nicht sie war, eine Trennungslinie, die mein Geist nie zu überschreiten vermochte. So hatten zum Beispiel die Fuchsienstöcke vor Madame Loiseaus Fenster die leidige Angewohnheit, ihre hängenden Zweige nach allen Seiten auszusenden, und die Blüten hatten dann nichts Eiligeres zu tun als, sobald sie groß genug dazu waren, ihre hochrot angelaufenen lila Backen an der dunklen Kirchenfront zu erfrischen; niemals aber wurden die Fuchsien in meinen Augen dadurch von dem sakralen Charakter der Kirche miterfaßt; nahm mein Blick zwischen den Blumen und dem geschwärzten Stein, an den sie sich schmiegten, keinen Abstand wahr, so beließ doch mein Geist zwischen ihnen eine tiefe Kluft.
Den Glockenturm von Saint-Hilaire erkannte man schon von weitem, denn er zeichnete sein unvergeßliches Bild bereits in den Horizont, bevor noch Combray den Blicken erschien; wenn von dem Zug aus, der uns in der Woche vor Ostern aus Paris herbeitrug, mein Vater ihn bemerkte, wie er abwechselnd rechts und links die Himmelsgefilde durcheilte und seinen kleinen blechernen Wetterhahn in alle Richtungen scheuchte, sagte er
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