Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
andere Menschen sein wird. Schuldfähig ist ein Täter dann, wenn er während der Tat verstehen konnte, dass seine Tat ein Unrecht ist, und wenn er seine Handlungen während der Tat bewusst steuern konnte. Eine solche Einschätzung sehen zahlreiche Polizeibeamte – wie viele andere Menschen auch – als »Entschuldigung« des Täters. Sie begreifen nicht, dass eine sachliche Erklärung keine moralische Entschuldigung ist.
Noch weniger können sie verstehen, warum Therapeuten wie ich sich entscheiden, mit Gewalt- und Sexualstraftätern zu arbeiten, sind diese in ihren Augen doch die Ausgeburt des Bösen schlechthin. Aus dieser Perspektive haben solche Täter erstens keine Therapie »verdient«; und zweitens kann man das »Böse« sowieso nicht therapieren.
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Therapeut, der mit Sexual- und Gewaltstraftätern arbeitet. Auf einer Party lernen Sie einen Menschen kennen, der Ihnen sympathisch ist. Er wird bald wissen wollen, was Sie beruflich machen. Sie antworten ihm wahrheitsgemäß. Was denken Sie, wie Ihr Gegenüber darauf reagiert?
Im besseren Fall ernten Sie nur Mitleid, weil Sie ein naiver Trottel sind, der an eine bessere Welt glaubt. Im schlechteren Fall lösen Sie Empörung aus: Ihnen ist es zu verdanken, dass diese Täter nicht angemessen bestraft werden, dass ihnen in der Therapie doch nur »der Arsch gepudert« wird und dass ohnehin alles eine riesige Verschwendung von Steuergeldern ist, mit denen man lieber den Opfern helfen sollte. Einige meiner Kollegen haben es aufgegeben, mit vernünftigen Argumenten gegen diese Mauer aus Vorurteilen und Fehlinformationen ankommen zu wollen. Sie belassen es dabei, dass sie Psychologen sind, die Therapien durchführen, und vermeiden weiter gehende Diskussionen.
Ich persönlich bin immer noch hartnäckig genug und setze den vielen Vorurteilen sachliche Argumente entgegen. Manchmal gestehen mir Leser des Buches »Aus der Dunkelkammer des Bösen« nach öffentlichen Vorträgen oder per E-Mail, dass ich ihre Meinung über Therapien für Sexual- und Gewaltstraftäter grundlegend verändert habe. Das zeigt mir, dass Argumente in dieser Sache immerhin einige Menschen erreichen. Das ist mir die Sache auf jeden Fall wert.
Gott das Seine und den Menschen das Ihre
Wenn ich therapeutisch mit einem Straftäter arbeite, dann stelle ich mir erst gar nicht die Frage, ob er »böse« ist – und, wenn ja, wie »böse«. Meiner Meinung nach könnte diese Frage, wenn überhaupt, nur einer wirklich beantworten, nämlich Gott – und an den glaube ich nicht. Mich interessieren daher nur Fragen, die ich mit den besten Mitteln beantworten kann, die Menschen zum Verstehen und zum Verändern der Welt zur Verfügung stehen: mit den Methoden und Erkenntnissen der Wissenschaft.
Fragen, die ich mir über den Täter stelle, sind: Welche Eigenschaften hat dieser Täter? Weshalb hat er diese Eigenschaften? Welche seiner Eigenschaften haben dazu beigetragen, dass er genau diese Straftat begangen hat? Hat er auch Eigenschaften, die ich in einer Therapie nutzen kann, um in ihm etwas zu verändern? Lässt sich der Täter durch eine Therapie so verändern, dass er nach seiner Entlassung nicht mehr gefährlich sein wird? Welche psychologischen Methoden muss ich bei ihm anwenden, damit er sich so verändert, dass er für niemanden mehr eine Gefahr darstellt?
All diese Fragen beantworten Therapeuten nicht – wie viele Menschen leider glauben – mit ihrem »Bauchgefühl«. Sie nutzen vielmehr wissenschaftlich gut erforschte psychologische Modelle, um festzustellen, welche besonderen Eigenschaften ein Täter hat. Sie schätzen ihn selbstverständlich nicht nur anhand dessen ein, was er sagt. Sie berücksichtigen zusätzlich auch alles, was über seine Vorgeschichte, sein Leben und seine Tat bekannt ist. Außerdem fließt in die psychologische Einschätzung mit ein, wie er sich in Haft verhält. Erst nachdem der Therapeut den Täter mithilfe all dieser Informationen psychologisch eingeschätzt hat, plant er, mit welchen Therapiemethoden dieser behandelt werden soll. Der Täter wird während seiner mehrere Jahre dauernden Therapie immer wieder von Therapeuten, Sozialarbeitern und Gutachtern beurteilt. Die weit verbreitete Mär, Therapeuten würden den Tätern, die sie behandeln, unbesehen glauben und bei ihnen immer vom Besten ausgehen, ist also vollkommen absurd.
Jenseits von Gut und Böse
In einem Interview für die Zeitung »Die Welt« fragte die Journalistin Maria
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