Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
– ob Künstler, Wissenschaftler oder psychisch erkrankte Patienten, ob Missbrauchsopfer, die sich mir anvertrauen, ohne mich näher zu kennen, oder Straftäter, mit denen ich arbeite – war diese wenig behütete Kindheit jedoch sicher ein Vorteil.
Ist das nicht belastend?
Wie gehe ich nun aber mit dem Grauen und dem Leid um, dem ich in meinem Beruf begegne?
Die ehrliche Antwort ist: Es berührt mich gefühlsmäßig viel weniger als viele andere Menschen. »Schlimme Dinge« sind mir nicht gleichgültig, aber ich bin mit ihnen aufgewachsen. Daher hat sich bei mir früh eine innere Haltung entwickelt, durch die ich solche Dinge einfach sachlich und nicht emotional wahrnehme. Wäre es nicht so, hätte ich sicher eine andere Berufsrichtung gewählt.
Man sucht sich nicht aus, so zu werden; man wird es oder man wird es eben nicht. Ich glaube nicht, dass man sich normale negative Gefühle im Umgang mit schweren Straftaten wirklich »abgewöhnen« kann. Deshalb rate ich Studenten, die in meinen Berufsbereich wollen, so früh wie möglich ein Praktikum in einer Justizvollzugsanstalt, einer Sozialtherapeutischen Anstalt oder im Maßregelvollzug zu machen. Wenn sie merken, dass die Täter und ihre Taten, mit denen sie es dort zu tun haben, sie seelisch belasten, dann rate ich ihnen dringend, die Finger von diesem Berufsfeld zu lassen.
Die »Guten« und die »Sachlichen«
Ich kenne viele Menschen, die als Forscher, Gutachter oder Therapeuten im forensischen Bereich, also mit schweren Straftaten, arbeiten. Wenn man einen dieser Berufe ausüben will, muss man eine sachliche Haltung zu grausamen Verbrechen einnehmen können. Alle Menschen aus diesen Berufsgruppen, die ich jemals näher kennenlernte, verfügen – wenn auch unterschiedlich stark – über diese Fähigkeit: Sie werden nicht jedes Mal von Entsetzen, Wut, Traurigkeit oder Angst gepackt. Meiner Meinung nach macht niemand lange einen solchen Job, der nicht schon vorher charakterlich so beschaffen war.
Anders ist es bei Polizeibeamten, die für das »Gute« kämpfen wollen. Sie finden schwere Straftaten oft ebenso erschütternd wie die meisten anderen Menschen auch. Deshalb sehen sich viele von ihnen als diejenigen, welche die »Bösen« ihrer gerechten Strafe zuführen. Ein Extrembeispiel dafür ist Vernon Geberth, der ehemalige Revierleiter einer Todesermittlungs-Einheit in New York. Vernon ist Autor von Lehrbüchern zu Todesermittlungen und war über vierzig Jahre als Polizeibeamter tätig. Er ist ein freundlicher, gläubiger Mann und zutiefst davon überzeugt, für das »Gute« und gegen das »Böse« zu kämpfen. Obwohl er im Ruhestand ist, lässt ihn seine »Berufung« nicht los. Bis heute treffe ich ihn auf dem Jahreskongress der »Amerikanischen Akademie für forensische Wissenschaften« (American Academy of Forensic Sciences – AAFS).
Vernon hat in seinem Leben unzählige Tötungs- und Sexualdelikte gesehen und bearbeitet, also das »Härteste«, womit sich ein Mensch beschäftigen kann. Sein Glaube an Gott befähigt ihn, damit umzugehen. In der Einleitung zu seinem sehr guten Buch »Sex-Related Homicide and Death Investigation« (Ermittlungen bei sexuell motivierten Morden und Tötungsdelikten) schreibt er:
»Der Herr unser Gott sagt: Du sollst nicht töten.
Das fünfte Gebot (…) der heiligen Bibel
(…)
Todesermittlungen stellen eine große Verantwortung dar.
Lass dich deshalb durch niemanden von der Wahrheit
und deiner persönlichen Verpflichtung dazu abhalten,
dafür zu sorgen, dass die Gerechtigkeit hergestellt wird.
Nicht nur für den Verstorbenen,
sondern ebenso für seine Angehörigen.
Denk daran: Du arbeitest für Gott.«
Ermittler und Wissenschaftler, die im forensischen Bereich arbeiten, sind charakterlich oft sehr verschieden. Die Ermittler wollen wissen: »Wer hat was getan, und wie können wir den Täter überführen?« Der Glaube, dass die Täter einfach »böse« sind und sie selbst für das »Gute« kämpfen, macht es ihnen möglich, mit den Dingen umzugehen, die sie zu sehen bekommen. Gerade wegen dieser Grundeinstellung haben viele Polizeibeamte kein Verständnis für Therapeuten und Gutachter, die mit Straftätern arbeiten.
Ein psychologischer oder psychiatrischer Gutachter, der vor Gericht aussagt, schätzt ein, aus welchen Gründen ein Täter eine Tat beging und in welchem psychischen Zustand er dabei war. Daraus leitet er ab, ob der Täter schuldfähig war und wie gefährlich er voraussichtlich in Zukunft für
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