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Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Titel: Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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wahr und sagte: »Habt ihr gerade Kakao getrunken?« Die Mitarbeiterin sagte: »Nein, wir untersuchen den Mageninhalt hier. Stimmt, es riecht auch irgendwie nach Kakao. Vielleicht hat der Verstorbene kurz vor seinem Tod Kakao getrunken.« Ich schaute mir kurz den Mageninhalt an, war gedanklich aber immer noch beim Thema »Kakao« und sagte: »Hab ewig keinen Kakao mehr getrunken. Hätte jetzt Lust auf einen. Ich mache mir in der Küche gleich eine Tasse. Wenn ich schon dabei bin, möchte einer von euch auch eine?« Darauf die Mitarbeiterin: »Stimmt, Kakao wäre nicht schlecht, ich würde auch einen mittrinken.« Für mich ist diese Situation so alltäglich, dass ich sie gar nicht bewusst erinnern würde, wenn mir nicht inzwischen klar wäre, dass die meisten Menschen entsetzt darüber sind. Sie würden es widerlich finden, an Kakaotrinken auch nur zu denken, nachdem sie den nach Kakao riechenden Mageninhalt eines Toten direkt vor sich gesehen haben.
    Eine ähnliche Situation ergab sich, als ich mit Mark und Anny Sauvageau, einer befreundeten kanadischen Gerichtsmedizinerin, an einem Forschungsprojekt arbeitete. Anny gründete die internationale »Arbeitsgruppe zur Untersuchung des menschlichen Erstickungstodes«, um die genauen Abläufe im Gehirn während der Erstickung wissenschaftlich zu untersuchen. Dafür wertete sie mit den Mitgliedern dieser Arbeitsgruppe – zu der Mark und ich gehören – weltweit Videos aus, auf denen Menschen durch Erhängungen starben. Die Verstorbenen hatten sich selbst gefilmt. Unter den Videos waren einige Suizide, die meisten waren aber tödliche autoerotische Unfälle.
    Solche Unfälle passieren, wenn Menschen – in den allermeisten Fällen Männer – sich in selbst gebastelte Vorrichtungen hängen, um beim Onanieren ihre Luftzufuhr abzuschnüren. Dadurch erleben sie einen besonderen sexuellen »Kick«. Zwar tüfteln diese Menschen oft sehr kreative Vorrichtungen aus, mit denen sie meinen sicher zu sein. Doch in sehr vielen Fällen versagt der »Sicherheitsmechanismus«, und sie kommen zu Tode. Dies passiert auf der ganzen Welt so häufig, dass Polizeibeamte in der Regel einen tödlichen autoerotischen Unfall schnell als solchen erkennen. Prominente Opfer dieser sexuellen Spielart sind der Schauspieler David Carradine – bekannt aus den »Kill Bill«-Filmen – und der INXS-Sänger Michael Hutchence.
    Anny reiste eine Woche lang mit Mark und mir durch Deutschland, um in verschiedenen Polizeidienststellen Videos auszuwerten. Findet die Polizei bei einem Todesfall ein solches Video, so wird es mit der Akte des Falles zusammen in der Dienststelle aufbewahrt – natürlich unter Verschluss. Deshalb mussten wir persönlich zu den Dienststellen, die sich an dem Forschungsprojekt beteiligten. Anny ging es um die genauen Bewegungsabläufe der Menschen, die auf diese Weise starben. Beim Erstickungstod fährt das Gehirn wie ein Computer langsam Stück für Stück herunter, erkennbar an unwillkürlichen Bewegungen, die alle Sterbenden in derselben Reihenfolge machen. Mithilfe ihrer Arbeitsgruppe fand Anny heraus, dass es beim Tod durch Erhängen sieben bis dreizehn Sekunden dauert, bis ein Mensch bewusstlos wird. Danach folgen die besagten, vom sterbenden Gehirn ausgelösten Bewegungen. Es dauert insgesamt ein- bis zweieinhalb Minuten, bis die letzten deutlichen Bewegungen vorbei sind.
    Anny und ich setzten uns in jeder Polizeidienststelle ungefähr fünfundvierzig Minuten lang vor den Rechner und schauten uns die Videos immer und immer wieder an. Dabei schrieben wir unabhängig voneinander in eine Tabelle, welche der typischen Bewegungen wir nach wie vielen Sekunden erkannten. Da die Bildqualität nicht immer die beste war und verschiedene Bewegungen – wie das Verkrampfen von Armen und Beinen – teilweise gleichzeitig ablaufen, mussten wir die Aufnahmen immer wieder anhalten, genau hinschauen, weiterlaufen lassen und so weiter. Wenn wir beide der Meinung waren, unsere Tabellen vollständig ausgefüllt zu haben, verglichen wir unsere Ergebnisse. Mark schaute sich die Videos dann ebenfalls an, und wir diskutierten zu dritt.
    Viele der Polizeibeamten, die uns freundlich empfingen, waren etwas irritiert vom Aussehen unserer kleinen Forschungsgruppe: Mark mit seinem langen, schwarzen Ledermantel und seinen Tätowierungen. Anny, die ebenso wie ich keine 1,60 m groß ist und ebenso wie ich meist jünger geschätzt wird, als sie tatsächlich ist. Ihre langen, blonde Haare trägt sie meistens

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