Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
vernünftige Freizeit-Alternative anbieten. Im Grunde war sie wohl froh, dass ich auf diese Weise im Ghetto nicht in »schlechte Gesellschaft« geriet.
Mein alter Freund Hannibal
So begegnete ich im zarten Alter von elf Jahren zum ersten Mal Hannibal Lecter – einem der wohl bekanntesten Psychopathen der Filmgeschichte. Der Film machte mir keine Angst, er faszinierte mich. Eine Faszination, die bis heute anhält. Ich nutze meinen »alten Freund« Hannibal bei Kriminalpsychologieseminaren, wenn ich das Thema »Psychopathen« behandle. Die Figur hat eine Menge von dem, was Psychopathen zu einem spannenden Thema macht: Lecter ist kaltblütig, gewissenlos und selbstverliebt. Er kann andere Menschen mit seinem Charme um den kleinen Finger wickeln, und nur eine Minute später konfrontiert er sie gezielt mit ihren größten Schwächen und trifft sie damit bis ins Mark.
Der Begriff »charmante Bestie« ist, auf Psychopathen bezogen, in den meisten Fällen zutreffend. Sie scheinen zwei Gesichter zu haben: Einerseits sind sie freundlich, einnehmend und scheinbar am Gegenüber interessiert. Andererseits scheuen sie keine Sekunde davor zurück, auch Menschen, die ihnen nahestehen, zu schaden, wenn sie dadurch einen persönlichen Vorteil haben oder wenn sie sich von diesen enttäuscht fühlen.
Seit dieser ersten Begegnung mit Hannibal Lecter wollte ich wissen, wie »echte« Psychopathen sind. Mir war klar, dass sie sicher nicht alle so reiche, hochgebildete Menschen sein können. Doch wer sind sie in Wirklichkeit? Wie schaffen sie es, alle Menschen in ihrer Umgebung zu täuschen? Warum können sie so schnell das Vertrauen und die Sympathie anderer Menschen gewinnen, während sie gleichzeitig ohne Mitgefühl und ohne Schuldgefühl, bösartig und grausam sind?
Kalte Seelen
In den meisten Fällen sind Psychopathen nicht einmal überdurchschnittlich intelligent. Doch oft haben sie ein gutes Gespür dafür, was in anderen Menschen vorgeht. Dadurch sind sie in der Lage, anderen »normale« Gefühle vorzutäuschen, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Was macht diese Menschen aus, die nach außen so viel vorspielen und in ihrem Inneren meist kalt wie ein Eisblock sind? Was sind ihre charakterlichen »Grundbausteine«?
Einige dieser Bausteine sind nur schwer für einen normalen Menschen nachzuvollziehen, andere kommen auch bei Menschen vor, die weder psychopathisch noch kriminell sind. Sie werden im weiteren Verlauf dieses Buches feststellen, dass auch Menschen, die Sie kennen, vielleicht die eine oder andere »psychopathische« Eigenschaft haben. Das bedeutet aber nicht, dass sie damit gleich psychopathisch sind. Nicht die einzelne Eigenschaft macht einen Psychopathen aus, sondern die Mischung aus vielen auffälligen Eigenschaften. Straftäter haben oft mehr psychopathische Eigenschaften als Menschen, die nie kriminell werden. Trotzdem vereinen nur wenige Straftäter so viele dieser Eigenschaften in sich, dass sie »echte« Psychopathen sind. Damit Sie lernen, die feinen Übergänge von »sonderbar« zu »psychopathisch« zu verstehen, werde ich Sie in diesem Buch Kammer für Kammer durch das »Innenleben« psychopathischer Menschen führen.
Je mehr psychopathische Eigenschaften in einem Menschen ausgeprägt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er Straftaten begehen oder zumindest anderen Menschen schaden wird. Doch auch Menschen mit überdurchschnittlich ausgeprägten psychopathischen Eigenschaften werden nicht immer kriminell. Zwei nichtkriminelle Männer mit einer mittelgradig psychopathischen Persönlichkeit werden Sie in diesem Buch kennenlernen. Obwohl vieles, was sie denken und tun, einem normalen Menschen sehr seltsam, vielleicht auch unheimlich vorkommt, können sie dies sehr gut vor anderen verbergen.
Psychopathische Straftäter wie Hannibal Lecter, die nur zum eigenen Vergnügen oder Vorteil morden und dabei nach außen hin die »netten Kollegen und Nachbarn« bleiben, findet man in allen Zeiten und Kulturen. Einige solcher Täter werde ich in diesem Buch vorstellen. Wenn Sie Psychopathen durch die Augen eines Psychologen sehen wollen, müssen Sie aber zuerst das »Handwerkszeug« kennenlernen, mit dem Psychologen arbeiten. Ich beschreibe dieses Handwerkszeug gern als »psychologische Baukästen«. Nur wenn Sie diese Baukästen verstehen, werden Sie später auch das »Baukastenset« Psychopath begreifen.
Psychologische Baukästen
Mich hat immer schon interessiert, wie Menschen in ihrer
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