Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Braun: »Josef Fritzl ist der Psychopath aus Österreich, der seine Tochter 23 Jahre lang in seiner Kellerwohnung gefangen hielt, sie vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte. Sie schreiben in Ihrem Buch ›Aus der Dunkelkammer des Bösen‹ von seiner Kindheit, und ich hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Ist das beabsichtigt?«
Meine Antwort war: »Ich wollte dem Leser zeigen, warum jemand so grausam wird. Es gibt Erklärungen für so etwas. Und da ist Mitgefühl in Ordnung, obwohl es natürlich keine Entschuldigung für seine Verbrechen gibt.«
Ein Leser kommentierte den Artikel im Internet mit den Worten: »Psychologen wollen doch immer an das Gute im Menschen glauben, sonst könnten sie ihren Beruf an den Nagel hängen!«
Die Meinung dieses Lesers ist meiner Erfahrung nach weit verbreitet. Der »normale« Gedankengang ist: Jemand, der so etwas Grauenvolles tut, muss als ganze Person zutiefst böse sein. Wenn jemand so böse ist, dann ist er kein Mensch mehr, sondern ein Monster. Und »böse« Monster muss man vernichten, um »gute« Menschen vor ihnen zu schützen.
Leider ist die Welt nüchtern betrachtet nicht ganz so einfach. Sie zerfällt nicht in entweder »gut« oder »böse«. Ein eher harmloses Beispiel dafür, wie sinnlos dieses Schubladendenken ist: Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King hat sein Leben dafür riskiert, dass zukünftige Generationen schwarzer US-Amerikaner nicht unter der unmenschlichen Rassen-Diskriminierung leiden. Wer von Ihnen würde sein Leben für so ein hohes Ziel opfern? Er muss ein zutiefst guter Mensch gewesen sein, oder? Wussten Sie aber, dass er seine Frau häufig betrog, dass sie davon wusste und darunter litt? Ist es nicht »böse«, seinen Partner zu betrügen, ihm damit sehr wehzutun und ihn trotzdem immer weiter zu hintergehen? Die meisten Menschen würden diese Frage bejahen. Ist Martin Luther King also ein böser Schürzenjäger, der ständig seine Frau verletzt hat und dem Sex wichtiger war als ihr Leid, oder ist er ein strahlender Held, der sein Leben für ein hohes Ziel opferte? Oder ist er beides? Und wenn ja, wiegt eine »gute« Handlung eine »böse« Handlung auf? Es gibt viele solcher Beispiele. Sie werden später die Gelegenheit haben, sich selbst in dieser Sache zu prüfen und herauszufinden, ob Sie wirklich ein so »guter« Mensch sind, wie Sie insgeheim sicher glauben.
Wenn Sie meine Art, mit diesem Problem umzugehen und zu arbeiten, nachvollziehen möchten, dann sollten Sie zunächst verstehen: Ich finde die Straftaten, welche die Täter begehen, zutiefst falsch, denn sie schaden damit ihren Opfern, deren Angehörigen und sogar ihren eigenen Angehörigen. Dieser Schaden ist durch nichts zu entschuldigen. Das Leid der Opfer ist ungerecht und furchtbar.
Doch wer an diesem Punkt stehen bleibt, wer den Täter als Monster sieht, das schon immer ein Monster war und immer eins sein wird, macht es sich zu einfach. Solche Täter und ihre Taten gibt es so lange, wie es Menschen gibt. Wenn wir sie nur wegsperren oder töten, dann werden wir nie begreifen, warum sie so werden und was wir dagegen tun können. Viele weltweite Untersuchungen haben aber inzwischen wissenschaftlich bewiesen, dass mit dem richtigen Wissen und den geeigneten Methoden Menschen sich so stark verändern können, dass sie für niemanden mehr gefährlich sind. Das ist möglich, nachdem sie eine Straftat begangen haben, aber auch schon vorher. Projekte wie »Kein Täter werden«, in denen Männer sich freiwillig um eine Therapie bemühen, weil sie fürchten, sie könnten zu Straftätern werden, beweisen, wie sinnvoll diese Arbeit ist.
Nicht alle Straftäter lassen sich therapieren. Jene, bei denen es nicht möglich ist, müssen ihr Leben lang eingesperrt bleiben. Doch das sind die wenigsten.
Anders zu sein sinnvoll nutzen
Ich habe versucht zu erklären, warum es der Gesellschaft nützt, dass es Menschen gibt, die mit schrecklichen Straftaten weniger gefühlsgeleitet umgehen können. Wie ungewöhnlich dies ist, wurde mir mit der Zeit immer stärker bewusst, anhand von Situationen, welche die meisten Menschen mit »normalen« Gefühlen äußerst seltsam finden.
Kriminalbiologe Mark Benecke erzählte beispielsweise bei Vorträgen manchmal von einer Begebenheit, die für das Publikum kaum vorstellbar ist. Er saß mit einer Mitarbeiterin gerade im Labor und untersuchte den Mageninhalt eines Verstorbenen. Ich kam dazu, ohne zu wissen, woran die beiden arbeiteten, nahm einen Geruch
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