Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
setzen genau das um, wozu sie laut »Paragraph 129 – Ziel der Unterbringung« des Deutschen Strafvollzugsgesetzes verpflichtet sind: »Der Sicherungsverwahrte wird zum Schutz der Allgemeinheit sicher untergebracht. Ihm soll geholfen werden, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.«
Die »Bootstour« wäre die dritte Gruppenausführung gewesen, welche die Justizvollzugsanstalt in Burg-Madel plante. Im halben Jahr zuvor gab es bereits eine entsprechende Ausführung in ein Tierheim und eine andere in ein Kino. Dabei ereigneten sich keine Zwischenfälle. Viele Menschen gehen von der irrigen Annahme aus, dass ein Straftäter, sobald er einen Fuß außerhalb der Gefängnismauern setzt, jede Gelegenheit zur Flucht nutzt. In Wirklichkeit passiert dies nur extrem selten.
Eine Statistik aus dem bayerischen Justizvollzug zeigt: Im Jahr 2000 wurden von allen bewilligten Fällen, in denen Straftäter für mehrere Stunden alleine das Gefängnis verlassen durften, nur 0,22 % für einen Fluchtversuch missbraucht. Verdeutlichen Sie sich diese Zahl: Es ist ein Fünftel von einem Prozent. Und in dieser Zahl sind alle Arten von Straftätern berücksichtigt, also beispielsweise auch Diebe und Betrüger.
Auch die Sicherungsverwahrten von Madel wären wohl kaum geflohen. Jeder Fluchtversuch verringert die Chance, je aus der Sicherungsverwahrung entlassen zu werden, drastisch. Außerdem ist es heutzutage in Deutschland für einen schweren Straftäter praktisch unmöglich, längere Zeit geschweige denn dauerhaft unterzutauchen. Somit hält schon die reine »Kosten-Nutzen-Rechnung« viele Gefangene davon ab, einen Fluchtversuch zu wagen. Bei einem Verhältnis von neun speziell ausgebildeten Aufsichtspersonen zu zwölf Gefangenen – wie im Beispiel des geplanten »Bootsausfluges« – wäre eine solche Aktion für den einzelnen Gefangenen ohnehin ziemlich aussichtslos gewesen.
Der Unterschied zwischen gefühlter und echter Gefahr
Nur in Ausnahmefällen begehen Straftäter während einer Lockerung irgendein schweres Verbrechen. Die Sozialtherapeutische Anstalt, in der ich mitarbeite, liegt in einem dicht besiedelten Gebiet. Keiner der Täter, die dort wegen Sexualverbrechen oder Tötungsdelikten inhaftiert sind – teilweise als Sicherungsverwahrte –, ist jemals während einer Lockerung rückfällig geworden.
Es ist gut möglich, dass Sie solchen Straftätern schon in der Fußgängerzone oder beim Arzt begegnet sind, ohne es zu wissen. Die meisten Menschen glauben, gerade schwere Straftäter müssten wie wild gewordene Bestien aussehen und sich auch so verhalten. Das ist eine weitere der vielen falschen Annahmen, die in vielen Köpfen herumspuken.
Durch Fernsehen, Zeitungen und das Internet erfahren Sie nur von den seltenen Fällen, in denen Straftäter während einer Lockerung oder nach ihrer Entlassung mit schweren Straftaten rückfällig werden. Von der überwiegenden Mehrzahl solcher Fälle, in denen die Täter keine schweren Straftaten mehr begehen, erfahren Sie nie. So etwas »verkauft« sich nicht.
»Freigelassenes Sex-Monster missbraucht Jungen«. Diese Schlagzeile gab es wirklich, sie spricht Gefühle an und erhöht den Verkaufserfolg der Zeitung. Das würde eine Schlagzeile wie » Ehemaliger Sexualstraftäter berichtet, warum er in den vierzig Jahren seit seiner Entlassung nie rückfällig wurde« nie tun. Die Medien leben davon, den Leuten eine Weltsicht zu verkaufen, in der es nur »schwarz« und »weiß«, »gute« und »böse« Menschen gibt – aber nichts dazwischen.
Der falsche Eindruck, rückfällige Straftäter seien eine große Gefahr für die Allgemeinheit, erzeugt große Angst. Diese Angst machen sich wiederum besonders gerne die Medien und Politiker zunutze. Ein Beispiel dafür ist der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. 2001 benutzte er einen aktuellen Kindermord, um ein paar zusätzliche Wählerstimmen zu angeln. Noch während die Öffentlichkeit von dem Mord erschüttert und verängstigt war, ließ sich Schröder mit der Stammtisch-Parole »Wegschließen – und zwar für immer« zitieren. Jeder Politstratege würde sagen: Perfektes Timing, perfekt genutzt.
Vergleichen Sie die Horror-Geschichten und Stammtisch-Parolen, die Politiker und Medien Ihnen verkaufen, mit den Fakten: Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie oder Ihr Kind durch ein Auto oder einen herabstürzenden Baumast schwer verletzt oder getötet werden, ist sehr, sehr, sehr viel größer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein therapierter
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