Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Unternehmen, die sich aus seiner Sicht »ungerecht« an anderen Menschen bereichern. Vor sich selbst kann er seine »Briefbomben-Phantasie« damit rechtfertigen, dass er diese Firmen für ihr Fehlverhalten »bestrafen« würde.
Als Boris mir dies erzählte – passenderweise erschien er mit Weihnachtseinkäufen für seine Familie in der Hand zum Interview –, wusste ich bereits einiges über ihn. Dazu gehörte auch, dass er nur selten Schuldgefühle empfindet. Daher spielen sie keine große Rolle bei seinen Entscheidungen. Dennoch war es ihm offenbar wichtig, vor sich selbst einen »gerechten Grund« für seine Gewaltphantasie vertreten zu können.
Um diesen Grund in Frage zu stellen, machte ich Boris auf Folgendes aufmerksam: Durch die Briefbomben würden doch mit größter Wahrscheinlichkeit nicht die Führungspersonen, sondern irgendwelche Mitarbeiter wie Sekretärinnen zu Schaden kommen. Also Menschen, die nicht durch die Firmengeschäfte reich werden, sondern einfach nur ihren Lebensunterhalt dort bestreiten.
Boris antwortete hierauf mit einer – wie wir Psychologen es nennen – »Rationalisierung«: Er versuchte auch diesen Aspekt seines eigentlich von Macht- und Rachegefühlen getriebenen »Planes« irgendwie »vernünftig« zu begründen. Daher entgegnete er gelassen und ohne zu zögern, dass ihm das klar sei. Doch wenn beispielsweise eine Sekretärin durch seine Briefbombe getötet würde, so sei sie zwar nicht sein »Hauptziel«, doch sie habe sich schließlich entschieden, dort zu arbeiten. Damit unterstütze sie diese Firma und sei daher nicht »völlig unschuldig«.
Um seine »Rationalisierung« noch etwas weiter zu treiben, führte ich Boris folgendes Szenario vor Augen: Angenommen, er würde seine Aktion einmal durchführen und dafür ins Gefängnis kommen. Dort würde er aus der Presse erfahren, dass die von ihm getötete Sekretärin nach langer Arbeitslosigkeit die Stelle bei der Firma angenommen hatte, um als alleinerziehende Mutter ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich fragte ihn, ob er in diesem Fall seine Entscheidung vielleicht bereuen oder sich schuldig fühlen würde.
Boris entgegnete, dass er es zwar schade fände, wenn ausgerechnet eine solche Frau bei seiner »Aktion« zu Tode kommen würde. Doch letztendlich wären alle Konsequenzen für ihn dieselben. Auch dass er der Firma aus seiner Sicht zu Recht schaden würde, bliebe gleich. Somit habe die Frau in einem solchen Fall leider Pech gehabt, meinte er. Das sei vergleichbar mit einem »Kollateralschaden« im Krieg, bei dem Zivilisten getötet werden. Das werde ja auch von allen Ländern der Welt als notwendiges Übel in Kauf genommen.
Als vorletzte Herausforderung in diesem Gedankenexperiment fragte ich Boris, wie es ihm in folgender Situation ginge: Der jugendliche Sohn der getöteten Sekretärin würde ihn im Gefängnis besuchen und fragen, warum er seine Mutter getötet habe. Hierauf erwiderte Boris weiterhin entspannt und ohne nachzudenken, dass es ihm um den Jungen etwas leid tun würde. Er würde ihm aber seine Auffassung erklären, so wie er es mir gegenüber gerade tat. Dass der Junge ihn trotzdem hassen würde, sei ihm klar. Doch er selbst würde trotzdem keine starken Gefühle deshalb empfinden, könne also gut damit leben.
Ich fragte Boris, wie er reagieren würde, wenn der Junge ihn wütend und traurig anschreien würde. Boris meinte, das könne er dann gut nachvollziehen. Er selbst würde sicherlich auch kein Verständnis für jemanden haben, der seine Mutter unter solchen Umständen töten würde. Ihm sei klar, dass er in einer solchen Situation der getöteten Frau und ihren Angehörigen etwas sehr Schlimmes antäte. Etwas, das selbst er – ginge es um seine Familie – für seine Verhältnisse sehr unangenehm fände. Daher würde er auch volles Verständnis für jede wütende und traurige Reaktion des Jungen haben.
Doch Schuldgefühle empfinde er eben kaum. Würde er sie in einer solchen Situation überhaupt empfinden, dann würden sie ihn auf keinen Fall besonders stark oder lange belasten, sagte er abschließend. Ich schätze Boris nach allem, was ich über ihn weiß, so ein, dass er diese Gedanken vollkommen ernst meint. Würde er sie jemals ausleben, dann wäre er eine Gefahr für andere Menschen.
Potenzielle Mörder, die doch nie töten
Es hat jedoch einen Grund, warum er bis heute keine Straftaten begangen hat: Solange er irgendwie zufrieden mit seinem Leben ist, tut er nichts, was ihn ins
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