Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
kaum begreifen. Wie Christian sein Fremdgehen wahrnimmt und bewertet, ist nur ein verhältnismäßig harmloses Beispiel dafür, was in psychopathischen Menschen vorgeht, wenn sie entscheiden, was »richtig und falsch«, was »Schuld und Unschuld« ist. Ihr Verhalten folgt anderen »Spielregeln« als das der meisten Menschen.
Die »normalen« Spielregeln sind ihnen allerdings zumindest theoretisch klar – auch wenn sie viele davon für unsinnig halten und Mitmenschen belächeln, die sich an diese gebunden fühlen. Umgekehrt wissen diese meist nicht, wenn sie es mit einem psychopathischen Menschen zu tun haben, und rechnen nicht mit dessen »Spielregeln«. Das verschafft psychopathischen Menschen Vorteile, wenn sie andere bewusst beeinflussen.
Psychopathische »Spielregeln« lassen sich teilweise aus wissenschaftlichen Untersuchungen erkennen. Ein Forscherteam aus Regensburg konnte 2010 zeigen, dass männliche Kriminelle mit stark ausgeprägten psychopathischen Eigenschaften andere Gewissensentscheidungen trafen als männliche Kriminelle ohne solche Eigenschaften. Stark psychopathische Kriminelle hatten in Konfliktsituationen auffällig häufig keine Probleme damit, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und dafür allgemeingültige ethische Regeln (wie beispielsweise »Du sollst nicht lügen oder stehlen«) zu brechen. Die untersuchten Personen gaben auch an, wie sie sich bei den einzelnen Entscheidungen fühlten. Psychopathen kamen wesentlich besser damit zurecht, ethische Regeln zu brechen, als die nicht-psychopathischen Befragten.
Christian hat nicht ganz so stark ausgeprägte psychopathische Eigenschaften wie die kriminellen Psychopathen der Untersuchung aus Regensburg. Dennoch entspricht die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der er seine Freundin betrügt und belügt, ihren ungewöhnlichen Gewissensentscheidungen und Gefühlen.
Ein krasseres Beispiel für solche eher »gewissenlosen« Gewissensentscheidungen bot Boris, ein anderer meiner mittelgradig psychopathischen, nicht-kriminellen Interviewpartner. Ich fragte ihn, wie er sich seine Zukunft im Alter vorstellt. Boris kümmert sich nicht um seine Altersvorsorge und betont stets, nur im Hier und Jetzt zu leben. Mit der typisch emotionslosen, ruhigen Stimmlage, die ich von all meinen psychopathischen Interviewpartnern gewohnt bin, wenn sie mit mir alleine sprechen, schilderte er folgenden »Plan« für seine »Altersversorgung«:
Heutzutage könne ja kein Mensch wissen, was in zwanzig oder dreißig Jahren sein wird. Aber sollte er dann tatsächlich in Armut leben und sich selbst als »alt« empfinden, dann könnte er sich immerhin noch einen Traum erfüllen und so das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
Er habe schon immer Aversionen gegenüber manchen großen Unternehmen gehabt. Diese bereichern sich seiner Meinung nach einseitig und ungerecht an anderen Menschen. Daher könne er sich vorstellen, wenn er ein gewisses Alter erreicht hätte und in Armut leben würde, mehreren solcher Firmen Briefbomben zu schicken. Er erklärte mir dabei auch genau, wie einfach es für ihn wäre, solche Bomben im Bedarfsfalle zu bauen.
Ich fragte Boris, warum er gerade Briefbomben als Mittel im Kopf hat. Darauf sagte er, wenn er beispielsweise mit einer Waffe Amok laufen würde, sei die Gefahr zu groß, dabei selbst erschossen zu werden. Das sei aber nicht sein Plan. Er wolle überführt und lebend festgenommen werden.
Anschließend werde er sicherlich den Rest seines verbleibenden Lebens in Haft verbringen, meinte er. Die Lebensbedingungen dort schätzt er nicht wesentlich schlimmer ein als die eines alten Mannes, der in Armut lebt. Bis dahin habe er genug erlebt und von der Welt gesehen. Außerdem sei er dann wahrscheinlich ohnehin nicht mehr körperlich fit genug, um noch viel zu unternehmen. Daher könne er sich vorstellen, seinen Lebensabend freiwillig im Gefängnis zu verbringen.
Macht und Kontrolle um jeden Preis
Mit dieser »Briefbomben-Aktion« würde Boris einerseits sehr viel Aufmerksamkeit auf sich und seine Meinung lenken und andererseits die ihm verhassten übermächtigen Unternehmen in Angst versetzen. Dahinter steckt eine wichtige Gemeinsamkeit aller psychopathischen Menschen: der Wunsch, Macht und Kontrolle über andere zu haben. Macht ist für sie das erdenklich beste Gefühl. Das Gegenteil, nämlich das Gefühl, Kontrolle zu verlieren, empfinden sie als überaus unangenehm.
Auch daher rührt das große Bedürfnis psychopathischer Menschen, anderen
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